Rezension

Drei Generationen sephardischer Juden - von Istanbul bis New York

Kantika -

Kantika
von Elizabeth Graver

Bewertet mit 5 Sternen

Die Anfang des 20. Jahrhunderts geborene Rebecca Cohen wächst als Tochter sephardischer Juden in Konstantinopel/Istanbul behütet und in bürgerlichem Wohlstand auf. Ihr Vater Abraham/Alberto  ist als Textilfabrikant in Familie und Handel bestens vernetzt; der Wohlstand der Cohens war erarbeitet und erheiratet. Da er nach einer geschiedenen kinderlosen Ehe zum zweiten Mal verheiratet ist, gilt Alberto  in der damaligen Zeit als alter Vater. Seine zweite Frau Sultana, Tochter eines Tabakhändlers, hat als Kind lange in Irland gelebt, so dass mit Türkisch und Ladino im Haus ein halbes Dutzend Sprachen gesprochen werden. Rebecca besucht eine private katholische Schule, zusammen mit christlichen, muslimischen und jüdischen Mädchen. In der weltoffenen Hafenstadt wächst sie in einer sorgenfreien Oase inmitten einer reglementierten Welt auf. Für Mädchen gelten darin strengere Regeln als für ihre Brüder, sie sind in ihrer Schicht das Kapital, das geschäftliche Beziehungen des Vaters und der Onkel besiegelt. Ein bürgerliches  sephardisches Mädchen gehört seinem Vater so lange, bis es dem Ehemann gehören wird. Innig verbunden mit ihrer Freundin Rahelika/Lika kann sich Rebecca nicht vorstellen, einmal woanders als mit dem Blick auf das Goldene Horn zu leben.

Mit dem Erstarken des Nationalismus im Windschatten des Ersten Weltkriegs endet die kulturelle Vielfalt der Stadt; die bis dahin blühende Wirtschaft gerät ins Straucheln. Alberto Cohen hatte zu diesem Zeitpunkt seine Fabrik zu oft allein gelassen und sich zu lange auf dem Erfolg seiner Familie im Handel ausgeruht, um in der Krise souverän reagieren zu können. Die Auswanderung 1926 nach Barcelona, wo angeblich eine kleine sephardische Gemeinde auf Cohen als Vorbeter wartet, scheint für die Cohens der einzige Ausweg zu sein. Frauen der sephardischen Gemeinschaft waren stets streng reglementiert worden, in der Emigration wird von ihnen jedoch fortan größere Anpassungsfähigkeit erwartet ...

Fazit

Elizabeth Graver lässt einen allwissenden Erzähler auf die kleine Rebecca und weiter auf die als Schneiderin erfolgreiche berufstätige Mutter blicken, die es schließlich nach New York verschlagen wird. Die Erzählerstimme zeichnet sich (gerade in den in Europa spielenden Kapiteln) durch ihren genauen Blick aus – auch auf die Schattenseiten der sephardischen Kultur und Religion für Mädchen und Frauen. Ganz nebenbei lässt sich gerade an den Schauplätzen  Istanbul und Barcelona verfolgen, wie das Beschneiden von Vielfalt und religiöser Toleranz zum Verlust qualifizierter Arbeitskräfte und damit zu wirtschaftlichem Abstieg führt. Der Roman dreier Generationen (Rebeccas Mutter  Sultana, Rebecca und 7 Kinder aus mehreren Ehen) spielt zwischen 1907 und 1945. Er lehnt sich eng an Gravers eigenen Familienstammbaum an, so dass die Sicht der realen (zwischen 1926 und 1935 geborenen) Kinder Rebeccas einfließen konnte. Der Blick in die Kultur von Sephardim, die in ein Land zurückgehen, aus dem ihre Vorfahren einst vertrieben wurden, konnte mich speziell mit den Ereignissen in Istanbul und Barcelona fesseln, der in den USA spielende Abschnitt weniger.