Rezension

Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt - Ryan David Jahn

Ein Akt der Gewalt
von Ryan David Jahn

Bewertet mit 5 Sternen

Allgemeines zum Buch und dessen Aufbau:
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"Ein Akt der Gewalt" umfasst 269 Seiten und gliedert sich in 49 Kapitel, die mit durchschnittlich fünf bis sechs Seiten nicht sehr umfangreich sind. Dennoch sind sie zusätzlich in Abschnitte unterteilt, was aber wohl eher dem Spannungsaufbau dient als der Möglichkeit, während des Lesens Pausen einzulegen. Dazu kommt, dass es in diesem Buch viele verschiedene Handlungsstränge gibt, zwischen denen nicht nur durch die einzelnen Kapitel gewechselt wird, sondern auch innerhalb der Kapitel selbst. Auch dazu dienen die Absätze.

Geschrieben ist das Buch aus der Sicht eines allwissenden Erzählers in der Gegenwartsform. Die Handlung umfasst nur einige Stunden. Sie nimmt am Abend des im Klappentext beschriebenen Geschehens ihren Lauf und dauert bis in die frühen Morgenstunden des folgenden Tages an. Doch in diesen wenigen Stunden passiert sehr, sehr viel. Diese gedrängte Masse an Ereignissen stellt der Autor durch ständige Sprünge zwischen einer Vielzahl an Handlungssträngen dar. Dem Leser werden viele Personen vorgestellt, er wird Teil deren Leben. Etliche Schicksale begegnen dem Leser, verbunden mit einer Menge an Problemen. Es kehrt kaum Ruhe ein, ständig passiert irgendetwas, durchweg muss der Leser Ereignisse verarbeiten und verdauen. Es ist ein sehr temporeiches und ereignisreiches Buch.

Die ersten drei Kapitel des Buches widmen sich Katrina und beschreiben ihren Weg von der Arbeit nach Hause bis hin zu dem schrecklichen Geschehen vor ihrer Haustür. Hier endet dieser Handlungsstrang abrupt und der Autor stellt dem Leser in den folgenden Kapiteln die Nachbarn von Katrina vor. Später folgen noch eine handvoll Kapitel, die sich mit dem Schicksal von Katrina und ihrem Kampf ums Überleben beschäftigen, aber klar wird, dass auf diesem Handlungsstrang nicht mehr das Hauptaugenmerk des Autors liegt. Fortan widmet er sich überwiegend den Folgen, die das Schicksal von Katrina für ihre Nachbarn hat.

Zum Inhalt:
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Der Klappentext beschreibt den Inhalt des Buches schon sehr genau, ohne zu viel zu verraten. Aber dennoch möchte ich kurz etwas ergänzen, um das Unglaubliche dieses Buches klar zu machen:

Da ist diese junge Frau, die allen sehr sympathisch ist und mit der sich alle gut verstehen. Diese junge Frau wird das Opfer eines brutalen Überfalls in einem ausgeleuchteten Innenhof, vor ihrer eigenen Haustür. Es fehlten nicht mehr viele Schritte und sie wäre in Sicherheit gewesen. Aber leider war der Täter schneller. Doch noch ist nichts verloren, denn die anderen Hausbewohner stehen an ihren Fenstern und schauen in den Innenhof. Sie sehen Katrina, sie sehen das Blut, sie ahnen, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Und sie sehen sich gegenseitig, wie sie an ihren Fenstern stehen und tatenlos zuschauen, wie vor ihren Augen eine junge Frau um ihr Leben kämpft. Ihre Nachbarin, der sie im Treppenhaus freundlich zunicken.

Jeder dieser Nachbarn hat ein eigenes Leben, hat eigene Probleme, die ihn beschäftigen. Und vor allem hat jeder von ihnen Ausreden. Ausreden, um nicht nur vor den eigenen Problemen die Augen zu verschließen, sondern auch vor dem schrecklichen Geschehen vor ihrer Haustür.

Die Handlung spielt vier Uhr morgens und obwohl zu dieser Zeit die meisten Menschen friedlich schlafen, werden die Charaktere dieses Buches von ihren Sorgen und Ängsten wach gehalten.

Meine Meinung zum Buch:
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Während ich gerade diese kurze Inhaltsangabe geschrieben habe, musste ich ständig mit dem Kopf schütteln, denn das Geschehen in diesem Buch ist einfach unglaublich und regt mich furchtbar auf! Es hat mich stellenweise schier in den Wahnsinn getrieben, wie passiv diese Nachbarn sind. Es gibt, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen - aber das Ergebnis des Buches ist wohl nach Lesen des Klappentextes klar -, eine Szene, die sich in den verschiedenen Handlungssträngen zu Beginn des Buches wiederholt und die mich schier wahnsinnig gemacht hat: Die Nachbarn von Katrina sehen, wie sich vor ihren Augen etwas Schreckliches abspielt. Und jeder von ihnen denkt "Sollte ich nicht die Polizei alarmieren?" Aber der nächste Gedanke ist dann sofort "Sicher hat schon ein anderer die Polizei alarmiert!" Denn die Nachbarn sehen sich gegenseitig an den Fenstern stehen und wissen, dass jeder Hausbewohner gerade dieses schreckliche Schauspiel im Innenhof beobachtet. Klar, dass dann wohl auch einer von ihnen die Polizei alarmiert hat. Aber es hat keiner die Polizei gerufen!! Weil jeder denkt, sein Nachbar hat es schon längst getan!! Diese Passivität macht mich echt rasend! Und doch muss ich mich gleichzeitig fragen, wie ich reagiert hätte. Hätte ich die Polizei gerufen? Wäre ich aktiv geworden? Hätte ich eingegriffen? Ich weiß es nicht. Aber zugeben muss ich, dass ich mich auf der Straße umdrehe, wenn ich ein Martinshorn höre. Wenn ich am Straßenrand ein Polizeiauto sehe, wandert mein Blick automatisch dort hin, um eventuell einen Blick auf ein aufregendes Ereignis zu erhaschen. Und wer fährt nicht langsamer und verdreht seinen Hals, wenn er an einer Unfallstelle vorbeifährt? Schreckliche Geschehnisse üben auf eine kranke Art eine Faszination aus, der man sich nur schwer verschließen kann. Und diese Faszination kann lähmend wirken, und sie kann hilflos machen. Letztlich fühlt man sich vielleicht einfach überfordert oder kann den Blick nicht abwenden, so furchtbar die Ereignisse auch sein mögen. Bislang habe ich noch kein Buch gelesen, dass dieses Thema auf eine solch eindringliche Art und Weise veranschaulicht wie das Werk von Ryan David Jahn.

Viele Szenen in diesem Buch sind blutig und brutal. Katrinas Kampf ums Überleben schildert der Autor schonungslos und mit einer Liebe zum Detail, die mir stellenweise wirklich zu intensiv war.
Aber dennoch ist das Buch vordergründig kein Thriller, sondern für mich eher eine Erzählung, aus der jeder Leser Schlussfolgerungen und vielleicht auch Konsequenzen für sein eigenes Leben ziehen kann. Besonders die letzten Kapitel versuchen, wieder mehr Menschlichkeit in die Handlung zu bringen und dafür hat der Autor ein gutes Händchen.

"Ein Akt der Gewalt" ist ein Buch, das mich trotz seiner Brutalität und Schonungslosigkeit wahnsinnig gefesselt und berührt hat. Katrina ist ein Charakter, der mir in den ersten drei Kapiteln sofort sympathisch geworden ist und mit dem ich furchtbar mitgefiebert habe. Ich habe ihr so gewünscht, dass sie sich selbst retten kann oder gerettet wird. Aber auch einige der anderen Charaktere wurden mir schnell sympathisch. Doch es gibt auch Charaktere in diesem Buch, die ich verabscheut habe und die Kapitel, die sich mit ihnen beschäftigt haben, habe ich oft angewidert gelesen.

Vor allem trifft dieses Gefühl des Angewidertseins auf die Kapitel zu, die sich mit dem Angreifer auf Katrina beschäftigen. Der Autor versucht, eine Erklärung für das Verhalten seiner Charaktere zu finden, indem er beschreibt, mit welchen alltäglichen Problemen sie zu kämpfen haben, die sie stellenweise an die Grenzen ihrer Kräfte bringen. Und ich muss zugeben, dass ich Verständnis aufbringen konnte. Denn letzlich ist das Zeigen von Schwäche nur menschlich. Aber ganz ehrlich: Für den Täter fehlt mir jegliches Verständnis und seine Gedanken fand ich einfach nur krank und widerlich.

Jeder Handlungsstrang ist eine Geschichte in sich. Jeder Charakter hat sein eigenes Los zu tragen. Aber darüber hinaus gelingt es dem Autor auf eine faszinierende Weise, die einzelnen Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Die Charaktere sind nicht einfach nur Nachbarn, sondern sie agieren miteinander. Jeder spielt auf irgendeine Art und Weise eine Rolle im Leben der anderen. Und was sich Ryan David Jahn für Verknüpfungspunkte ausgewählt hat und wie er die Verbindung zwischen den einzelnen Charakteren hergestellt hat, hat mich fasziniert, aber auch schockiert. Es sind menschliche Abgründe, die er dem Leser aufzeigt und wieder hat er damit bei mir starkes Kopfschütteln verursacht.

Ganz hervorragend gelungen ist meiner Meinung nach, dass Jahn selbst als allwissender Erzähler Teil des Geschehens ist, aber er urteilt nicht über die Menschen. Er beschreibt lediglich ihr Verhalten und gibt dem Leser Gründe an die Hand, die dafür ursächlich sein könnten. Aber die eigentlichen Schlussfolgerungen zieht der Leser. Er ist es, der die passiven Nachbarn verurteilt. Der sie anschreien möchte, doch endlich etwas zu tun. Endlich aktiv zu werden. Dieser Rolle verwehrt sich der Autor gänzlich und ich finde diese Grenze wunderbar gezogen, denn somit erreicht der Autor genau das, was er vielleicht mit diesem Buch bezwecken will: Er lässt den Leser in einen Spiegel blicken und lässt die Frage aufkommen: Wie würde ich mich verhalten?

Der Schreibstil des Autors ist schlicht und vorwiegend beschreibend und berichtend. Das Buch liest sich flüssig und leicht und ich habe es innerhalb kürzester Zeit verschlungen.

Mein Fazit:
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Ein schonungsloses Buch, das mich als Leser an die Grenzen der nervlichen Belastbarkeit geführt hat.