Rezension

Ein Jahreshighlight!

Das perfekte Grau -

Das perfekte Grau
von Salih Jamal

Das Buch ist gleichzeitig schwer und unglaublich leicht, derb und zart, zum Lachen und zum Weinen und zum Nachdenken sowieso. Lesen!!!

Das ist die Geschichte von Novelle, Rofu, Mimi und von mir. Rofu hat nur ein Ohr und ist über das Meer gekommen. Aus Afrika. Mimi ist Engländerin. Sie hat ihren Mann umgebracht, nun versteckt sie sich unter Perücken und hinter dunklen Brillen. Novelle ist noch sehr jung. Sie liebt Mangas und die Sauferei. Manchmal fährt sie einfach aus der Haut oder sie hört Stimmen. Den komischen Namen hat sie von ihrer Mutter. Als unsere Geschichte damals losging, wusste ich das alles noch nicht. Ich, ich heiße Ante, aber alle nennen mich Dante. Wegen des Infernos. Ich bin, genau wie die anderen, auch auf der Flucht. Ich glaube, vor mir selbst.

Vier Charaktere, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie an einem gottverlassenen Ort an der Ostsee aufeinandertrafen, wo sie alle in einem heruntergekommenen Hotel arbeiten. Alle vier, auch das eine Gemeinsamkeit, sind vor irgendetwas auf der Flucht. Rofu vor den unmenschlichen Bedingungen in seiner Heimat und nach unglaublichen Erlebnissen auch auf dem gefährlichen Weg nach Deutschland, Mimi vor der Polizei nach dem Mord an ihrem Mann, Novelle vor ihrer Vergangenheit als Kind, die sie am liebsten für immer abstreifen würde, und Dante - ja, Dante... Er flieht vor allem, was nach einem Festlegen, einer Verantwortung, einem Stillstand im Leben ausschaut.

Ehrlich gesagt, bekam ich einen kleinen Schrecken als ich merkte, dass Dante gerade jener Charakter aus Salih Jamals erstem Buch war ("Briefe an die grüne Fee"), mit dem ich seinerzeit richtige Schwierigkeiten hatte. Meine Rezension dazu fiel auch entsprechend kritisch aus. Aber Menschen entwickeln sich weiter - auch Autoren und eben Charaktere in Büchern. Zum Glück. Geblieben ist bei Dante eine gewisse Unverbindlichkeit, die Sehnsucht nichts zu verpassen, der Wunsch, sich gesellschaftlichen Zwängen möglichst zu entziehen. Aber er ist weicher geworden, toleranter und für mich als Leserin zugänglicher.

Das war mir wichtig zu erwähnen, aber im Grunde gibt es hier nur kleine Anspielungen auf die 'Briefe an die grüne Fee', und es ist nicht von Bedeutung, diesen Roman zu kennen, bevor man sich an 'Das perfekte Grau' begibt.

Dante fungiert hier als Ich-Erzähler und führt durch die Geschichte, aber die anderen Charaktere haben ebenso alle ihre Bedeutung. Mit ihren so unterschiedlichen Lebensgeschichten wirft Salih Jamal ein ganzes Feuerwerk an Themen in die Runde, und anfangs hatte ich Sorge, dass es ein Zuviel sein könnte. Aber dem Autor gelingt der Balanceakt: viel zum Nachdenken für den Leser, Betroffenheit eingeschlossen, dann aber die gemeinsame Geschichte, die Entwicklung aufzeigt. Flucht als gemeinsames Thema - gleichzeitig aber auch die Sehnsucht, endlich irgendwo anzukommen...

Bislang klingt das Geschriebene hier eher sachlich. Ehrlich gesagt schwirrt mir der Kopf. Lange habe ich mich vor der Rezension gedrückt, immer wieder einen Anfang gesucht und dann doch wieder alles verworfen. Wenn mich ein Roman derart berührt, habe ich das Gefühl, dem auch in meiner Rezension gerecht werden zu müssen. Aber es überfordert mich auch. Denn dieser Roman hat mich auf vielen Ebenen berührt. Manchmal gibt es das Richtige zur rechten Zeit, dann passt einfach alles. Und hier war das so. Mag sein, dass es in einer anderen Lebensphase anders gewesen wäre - und doch gibt es bislang vor allem begeisterte Rezensionen.

Was ist das nun überhaupt für ein Roman? Ein kurzer, definitiv, mit seinen gerade einmal 240 Seiten. Aber gleichzeitig auch ein langer, da hier so vieles in vielen übereinandergeschichteten Ebenen geschieht und angerissen wird. Die Charaktere sind keine Helden, im Gegenteil, sie treffen teilweise grenzwertige Entscheidungen. Und doch sind sie alle auf ihre Art tapfer und stellen sich letztendlich den wichtigen Fragen des Lebens. Und diese betreffen doch auch jeden Menschen, so auch den Leser.

Aus der Notgemeinschaft im Hotel entwickelt sich unerwartet ein Roadtrip, eine ungeplante Reise, bei der immer wieder Unerwartetes geschieht, aber auch der Augenblick gelebt wird, was ungemein schön ist. Überhaupt: schön. Da wäre noch der Schreibstil. Salih Jamal gelingt es, in einer verknappten Sprache auch zwischen den Zeilen so viel zu transportieren, dass einem schwindelig werden kann. Klar und brutal zuweilen, dann wieder zart und angedeutet, oft poetisch.

In der Leserunde zu diesem Roman zeigte sich, dass es vielen so erging, dass sie beeindruckt waren. Unzählige Zitate wurden erwähnt, und ja, auch mein Buch ist voller Eselsohren und Bleistifteinträge. Wie?!, schreit hier vielleicht manch einer auf. Aber im Grunde gleicht dies einem Ritterschlag. Denn dieses Buch ist meins, mit Haut und Haar. Und ist bereits zweimal gelesen worden, das Hörbuch wird folgen.

Ich merke, dass ich trotz aller Bemühungen nicht wirklich beschreiben kann, wie es mir mit diesem Roman erging. Der melancholische Ton der Erzählung hat mich getroffen. Die Schicksale berührt. Die philosophischen Anklänge zum Nachdenken gebracht. Das offene Ende nicht losgelassen. Poetisch und zart, brutal und aufwühlend, humorvoll und berührend. Ein Roman, der an die Seele geht. Und so viele schöne Passagen, dass sie gar nicht alle zitiert werden können. Und wenn man die im Roman erwähnten Musiktitel parallel zum Lesen hört, verstärkt sich die melancholische Stimmung noch.

Ein Jahreshighlight im Januar? Ja, unbedingt! Und ich wünsche dem Buch zahlreiche Leser. Jeder, der sich im Leben Fragen stellt, Wünsche offen hat, Sehnsüchte hegt: hier werden Krusten aufgebrochen.

Das Buch ist gleichzeitig schwer und unglaublich leicht, derb und zart, zum Lachen und zum Weinen und zum Nachdenken sowieso. Lesen!!!

 

© Parden