Rezension

Ein Kaleidoskop aus Erinnerungen

Ein Lied für die Vermissten - Pierre Jarawan

Ein Lied für die Vermissten
von Pierre Jarawan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Das Buch zeichnet sich durch seinen einzigartigen Stil aus. Schon der Schreibstil selbst ist sehr individuell und ziemlich poetisch, was ich aber sehr gerne mochte. Dieser Stil sorgte dafür, dass die oft melancholische und leicht bedrückende Atmosphäre absolut bei mir ankam.

Gleichzeitig ist dies kein Buch, das man einfach so weglesen kann, stattdessen erfordert es die volle Aufmerksamkeit. Die Geschichte besteht aus Rückblicken des Protagonisten Amin, die allerdings nicht chronologisch erzählt werden. Stattdessen springt er zwischen den verschiedenen Zeitebenen - vor allem 2006 und 1996 - und dann verschiedenen Zeitpunkten hin und her, und nicht immer fiel es mir leicht, ihm dabei zu folgen.
Dennoch macht genau das diese Geschichte auch aus: dass sie aus einem Kaleidoskop aus verschiedenen Augenblicken besteht, die nach und nach zusammengesetzt werden, bis sich am Ende ein Bild mit Verbindungen gibt - bei dem auch scheinbar willkürlich gewählte Erinnerungen vom Anfang plötzlich eine Bedeutung erhalten. Ich fand es authentisch, dass die Erinnerungen anfangs eher über Assoziationen aneinandergereiht werden, schließlich erfolgt das eigene Erinnern oftmals genauso.

Und auch wenn die Handlung nur aus Erinnerungen bestand, konnte sie mich doch absolut in ihren Bann ziehen, vielleicht gerade wegen dieses besonderen Stils und der Atmosphäre. Dadurch ist es ein eher ruhiges, melancholisches, aber deswegen nicht weniger tiefgründiges und eindrückliches Buch. Dies ist auch grade deswegen der Fall, weil einige ernste Themen wie der Umgang mit Kriegsverbrecher*innen, Traumata, psychische Erkrankungen oder Gewalt gegen Frauen angesprochen werden.

Wir tauchen also ein in eine Stadt und ein Land, die von wiederholten Konflikten geprägt sind. Und darum geht es in diesem Buch: wie mit dem überwundenen Bürgerkrieg umgegangen wird. Und vor allem auch, wie vieles schlichtweg verschwiegen wird.
Dem Autor, dessen Eltern selbst den Libanon im Bürgerkrieg verlassen haben, gelingt es dabei, ein sehr einnehmendes und bedrückendes Bild von der Gesellschaft und dem über allem schwebenden Einfluss, den der Krieg auch nach seinem Ende noch hat, zu zeichnen - verlorene Kindheiten, die Frage von Schuld, zerstörte Gebäude ... all das erhält mit diesen poetisch-schönen Worten eine Form.

Dabei wird aus der Nachbemerkung und der Danksagung deutlich, wie viel Recherche der Autor in dieses Werk gesteckt hat, sodass die beschriebenen Ereignisse in ihrer Individualität vielleicht fiktiv sein mögen, dabei jedoch auf tatsächliche Geschehnisse basieren. Teilweise in dem Buch auftauchende Aussagen von Offizieren oder Zeug*innen sind real.

Der Protagonist Amin bleibt bis zum Ende ein passiver Erzähler, der die Erinnerungen und Geschichten zusammenträgt und zusammensetzt, was dazu führte, dass er für mich als Charakter nur schwer greifbar war. Umgekehrt passt es aber eindeutig zu der Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird. Andere Charaktere wie seine Großmutter erhalten mehr Tiefe und sind gerade in dem Fall seines Kindheitsfreundes Jafar auch sehr faszinierend.
Das Ende lässt dann ein paar Fragen offen, was ich sehr authentisch finde, und ich mochte es, wie es zum sogenannten Arabischen Frühling überleitet.

Fazit: Verschiedene Erinnerungen werden asynchron durch den eher passiv bleibenden Protagonisten erzählt, bis sie sich am Ende zu einem zusammenhängenden Bild zusammensetzen. Die Handlung bleibt dadurch recht ruhig und nicht immer ist es dabei leicht, die Zeitsprünge einzuordnen. Dem außergewöhnlichen, poetischen Stil gelingt es, die bedrückende, melancholische Atmosphäre im Nachkriegs-Libanon herüberzubringen, und die intensive Recherche des Autors spiegelt sich auch in dem gelungenen Einweben vieler ernster Themen wider.