Rezension

Ein mögliches Leben

Ein unmögliches Leben - Andrew Sean Greer

Ein unmögliches Leben
von Andrew Sean Greer

Bewertet mit 4 Sternen

Es ist 1985 und in New York, und nicht nur dort, grassiert eine Seuche und fordert viele, meist junge Männerleben. Auch Gretas geliebter Zwillingsbruder Felix fällt der bis dahin weitgehend unbekannten Krankheit AIDS zum Opfer. Als sie auch noch der langjährige Lebenspartner Nathan zunächst betrügt und dann verlässt, fällt Greta in ein tiefes, depressives Loch, aus dem sie sich alleine nicht befreien kann. Wie sehr wünscht sie sich ein anderes Leben, könnte sie die Zeit doch zurückdrehen zu einem Punkt, an dem sie noch all ihre Lieben um sich hatte. Ihre Tante Ruth überredet sie zu einer Elektrokonvulsionstherapie, um ihre Seele irgendwie wieder geradezurücken. Diese Therapie katapultiert sie in einen Zeitstrudel, bei dem man als Leser nicht so genau weiß, ob er "tatsächlich" stattfindet, oder ob es sich dabei nur um durch die elektrischen Reize im Gehirn ausgelöste Vorstellungen Gretas handelt. Für den Fortgang des Buches aber egal, doch es erdet das Buch angenehm und nimmt ihm das bei vielen Zeitreisegeschichten oft strapazierte "Magische". Greta landet nach jeder Therapiesitzung abwechselnd in den Jahren 1918,1941 und ihrer Gegenwart. Natürlich bewusst gewählte Zeitpunkte, mit Kriegsende, Kriegseintritt und einem Höhepunkt der AIDS-Welle im Westen. Greta findet sich überraschend schnell in ihrer jeweils neuen Zeitumgebung zurecht, findet dort auch ihre Lieben wieder, wenn auch nicht immer ohne Verluste und versucht mit ihrem Wissen die Gegebenheiten positiv zu beeinflussen, besonders die Nähe zu ihrem Bruder und zu Nathan zu genießen. Bald muss sie aber feststellen, dass parallel zu ihr in den anderen Welten andere Gretas ebenso tätig sind.

So kompliziert sich die Konstruktion der Geschichte anhört, so leicht und problemlos taucht man als Leser hinein. Zwar knirscht es schon manchmal, z.B. wenn alle drei Nathans zur gleichen Zeit eine Affäre haben, meistens tun sich aber überzeugende Parallelen auf, wie z.B. bei AIDS und der Spanischen Grippe  1918. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten werden deutlich, besonders bei der Rückkehr Nathans aus dem Ersten Weltkrieg und bei Kriegseintritt der USA nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbour. Hier hätte der Autor gerne ein bisschen mehr in die Tiefe gehen können. So wird manches nur zum interessanten Dekor der philosophischen Fragen und Thesen des Autors. Diese sind aber schlüssig und bewegend. Was macht einen Menschen aus? Wie viel eines Menschen ist Produkt seiner Zeit, seiner Lebensumstände? Wie sieht ein perfektes Leben aus? (Wie) kann man es erreichen? Greta erkennt bald, dass es dieses perfekte Leben schwerlich gibt, dass der Mensch natürlich auch von den äußeren Bedingungen geprägt wird, keiner, auch sie selbst nicht, ist in allen drei Welten Derselbe. Aber manches, und vor allem das Leid, sind auch unvermeidbar.

"Nicht die Zeit, in der wir lebten, deformierte unsere Liebe (...) Es war schlicht und ergreifend der verdammte Lauf der Dinge."

Es gibt die "... Vielen, die fürs Glück in der falschen Zeit geboren worden waren", so z.B. ihr homosexueller Bruder, der sein Leben zu keiner der Zeiten wirklich frei leben konnte, oder auch all die Frauen vergangener Zeiten, die nicht wirklich über ihr Leben entscheiden konnten.

Sie kommt aber auch zu der wunderbaren Erkenntnis

"Am Leben zu sein ist so unwahrscheinlich. (...) Es ist so viel besser, als wir meinen..." und "... nur wer kurzzeitig aus seinem Trott gerüttelt wurde, entdeckte vielleicht, wie seltsam, wie schön alles ringsum war.“ "Ich war die Einzige, die wusste, was alles verlorengehen würde."

Greer schreibt mit einer gewissen Melancholie, in eleganter, poetischer Prosa ein sehr nachdenkliches Buch über das Leben selbst, über andere für uns mögliche Lebensentwürfe zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, und hebt es dadurch weit ab von einer allein unterhaltsamen Zeitreisegeschichte.