Rezension

Ein Schicksal aus Korea, erzählt in runder, glaubwürdiger Sprache, das mich sprachlos zurücklässt

Mein pochendes Leben - Ae-ran Kim

Mein pochendes Leben
von Ae-ran Kim

Bewertet mit 5 Sternen

Der junge Süd-Koreaner Arun  Han war ein besonderes Kind. Während andere Kinder sich Sprache durch Nachahmen aneignen, las er Wörter auf wie Blätter und stellte sie sich wie Vokabelkarten vor.  Wörter als Karten lassen sich sinnlich begreifen, in die Hand nehmen und bewegen. Als Arun geboren wird, sind seine Eltern gerade erst  17 Jahre alt, seine Mutter Mira muss wegen ihrer Schwangerschaft die Schule verlassen, sein  Vater, Daesu Han, verdient sein erstes Geld als Bauarbeiter. Das Dorf der Großeltern wurde zur Großbaustelle  für einen geplanten Freizeitpark, viele Bewohner müssen ihre Häuser verlassen und erhalten eine Abfindung. Als Arun 2 Jahre alt ist, stellt sich nach langer Odyssee heraus, dass er an Progerie leidet, einer seltenen Krankheit, die die Erkrankten in rasantem Tempo altern und früh sterben lässt. Es scheint unwahrscheinlich, dass Arun älter als 17 Jahre wird, bis dahin will er jedoch eine Geschichte für seine Eltern geschrieben haben. Damit muss er sich beeilen; denn sein Herz und seine Augen sind bereits schwer geschädigt.

In Rückblenden erzählt der junge Icherzähler von der Beziehung und dem Alltag seiner Eltern, die ihr Dorf noch nie verlassen hatten, bevor sie mit Arun zur Untersuchung in ein Krankenhaus der Hauptstadt reisen mussten. Arun wirkt wie ein Jugendlicher, dessen geistige Entwicklung den körperlichen Verfall nicht einholen kann. Sein Körper wird durch Krankheiten  zerstört, an denen sonst nur Hochbetagte leiden. Da er keine anderen Progerie-Kranken kennt, kann und muss Arun sich an niemandem messen. Ein Tag seiner kalkulierten Lebenszeit entspricht vermutlich einem Tag im Leben seines Vaters. So albert Arun  herum, dass er älter ist als sein Vater, der kontert, „du bist älter als ich, aber ich bin immer noch dein Vater“. Weil der Junge nicht zur Schule gehen kann, kann er zwar den ganzen Tag dem Lesen und Schreiben widmen, aber hat keine gleichaltrigen Freunde. Der alte Nachbar  Herr Jang, der mit seinem dementen Vater zusammenlebt, ist kein Umgang für ein Kind, findet Aruns Mutter. Doch jeder Jugendliche braucht erwachsene Gesprächspartner, die nicht die eigenen Eltern sind. Während es  Arun gesundheitlich dramatisch schlechter geht, begegnet  er überraschend Menschen, mit denen er endlich auf Augenhöhe kommunizieren und damit seine Rolle als Kind und als Patient verlassen kann.

Aruns Erlebnisse  als Jugendlicher sind in der technisch fortgeschrittenen Gegenwart angesiedelt, während  seine Kleinkindzeit in jedem Land und zu jeder Zeit spielen könnte. Für die Sichtweise eines jugendlichen Icherzählers erreicht Ae-ran Kims berührender Roman sprachlich ein erstaunliches Niveau. Arun ist nicht alt, nicht jung, er ist einfach er selbst, wie ein Berg, „auf dem alle Jahreszeiten gleichzeitig“ stattfinden. Zwischen alltäglichen Ereignissen drängen aus der Geschichte wie Blüten in kräftigen Farben zutiefst weise Einsichten an die Oberfläche. So zeigt Arun großes Einfühlungsvermögen in seine Mutter, die für ihr Alter verblüffend souverän mit der unheilbaren Krankheit ihres Kindes umgeht, und schließt am Ende den Bogen zu den beiden 16-Jährigen (so alt wie er heute), die ungeplant schwanger wurden.  Ein äußerlich schönes Buch, übersetzt in eine runde, glaubwürdige Sprache, das mich sprachlos zurücklässt.