Rezension

…ein ungewöhnliches Hör-Erlebnis

Das Phantom der Oper - Gaston Leroux

Das Phantom der Oper
von Gaston Leroux

Lieben wir nicht alle Schauergeschichten – egal ob literarisch, filmisch oder rein akustisch: Dieses wohlige Gruseln während die Anspannung stetig steigt. Das Entgegenfiebern bis zum erlösenden Ende. Das Nachspüren der Atmosphäre, wenn uns hinterher unser Gang durch die dunkle und verdächtig stille Wohnung ins Schlafzimmer führt, und wir es uns kaum verkneifen können, einen prüfenden Blick in den Schrank und unter das Bett zu werfen…!

…und manche Geschichten schaffen es, Jahre/Jahrzehnte/Jahrhunderte ebenso zu überdauern wie kurzlebige Mode-Erscheinungen unbeschadet zu überleben, um so in den Olymp der Klassiker aufzusteigen und sich in eine illustre Schar von Mitstreiter*innen einzureihen. Legte Mary Shelley im Jahre 1818 mit „Frankenstein“ einen fulminanten „Grundstein“ für das Horror-Genre, der von keinem geringeren als Edgar Allan Poe und seinen Werken meisterhaft ausgebaut wurde. Doch auch nach dessen rätselhaften Tod im Jahre 1849 war es nur eine Frage der Zeit bis neue Schocker ihre Leserschaft zum Schaudern brachten, wie Robert Louis Stevenson im Jahre 1886 mit Dr. Jekyll & Mr. Hyde und Bram Strokers „Dracula“ aus dem Jahre 1897. Im Vergleich zu diesen Werken erscheint „Das Phantom der Oper“ aus dem Jahre 1909 beinah wie das „Nesthäkchen“.

Seit geraumer Zeit setzt ein dubioses Wesen die Direktion der Pariser Oper unter Druck und Künstler und Bühnenarbeiter in Angst und Schrecken. Er hat ganz klare Vorstellungen, wie „seine“ Oper zu führen sei, und nimmt Einfluss an der künstlerischen Arbeit des Hauses. Sollten seine Anweisungen nicht befolgt werden, geschieht Schreckliches. Zu aller Überraschung protegiert er die junge, unerfahrene Sängerin Christine Daaé, die sich dank seinem Unterricht auf der Bühne als brillante Sängerin profiliert. Doch auch Raoul, Vicomte de Chagny, ein Jugendfreund von Christine, ist von ihr entzückt. Doch die Liebe der beiden jungen Menschen bleibt dem Phantom nicht verborgen, und er setzt skrupellos alles daran, um Christine für ewig an sich zu binden…!

Ein Roman wie „Das Phantom der Oper“, dessen Schauplatz ein Opernhaus ist und der von einem geheimnisvollen Gesangslehrer und seiner betörenden Schülerin handelt, ist natürlich geradezu prädestiniert für eine musikalische Umsetzung. Schon bei den ersten Stummfilmen wurde die Handlung auf der Leinwand vom Kino-Pianisten vor Ort mit klassischer Musik unterlegt. In späteren Verfilmungen waren üppige Opern-Szenen immer ein wichtiger Teil der Handlung. Und selbst Andrew Lloyd Webber zitiert in seinem Musical-Welterfolg die Musik des Meisters der französischen Grand opéra Giacomo Meyerbeer. Für mich ist dies auch eine der gelungensten (wenn nicht sogar die gelungenste) Umsetzung(en) dieses Stoffes, und ich glaube, mir ein Urteil erlauben zu können: Ich habe dieses wunderschöne Musical bisher sechs Mal auf der Bühne bewundern dürfen (1991, 1995, 1996, 2001 und am 14.02.2014 in „Neue Flora“ in Hamburg und am 08.11.2001 in „Det Ny Teater“ in Kopenhagen).

Und gerade von dieser Version voller opulenter Klangfülle musste ich mich beim Anhören des Hörspiels wieder lösen bzw. kurzfristig vergessen, um einen neutraleren Blick auf diese Umsetzung des Romans werfen zu können. Regisseurin Regine Ahrem besann sich bei ihrer Hörspielbearbeitung auf den Original-Roman, den Leroux in einem beinah journalistisch-nüchternen Ton verfasste. Während in anderen Adaptionen der erzählerische Schwerpunkt eher auf der Konstellation Christine-Phantom liegt, darf hier Raoul seine Stimme erheben und bekommt diese gleich von zwei Sprechern geliehen. Matthias Habich spricht den gealterten Raoul, der, nach dem Tod seiner geliebten Gattin Christine und mit dem Abstand von Jahren, seine Sicht der damaligen Ereignisse zum Besten gibt. Habich fungiert hier als ein souveräner Erzähler und gibt so den Rahmen der Handlung vor. Die dynamische Stimme von Mirco Kreibich als sein jüngeres Ego harmoniert sehr gut mit der reifen, gesetzten Stimme von Habich. Marina Frenk gestaltet die Christine weniger als passiv-duldende Schöne. Vielmehr agiert sie sehr selbstbewusst, ließ allerdings auch ein wenig den Reiz vermissen, den ihre Rolle auf die beiden männlichen Kontrahenten ausüben sollte. Mit einem beinah androgynen Ton verleiht Fabian Hinrichs der Titelfigur Profil und changiert in seiner Interpretation von sanft-verführerisch über diabolisch-gefährlich bis mitfühlend-sensibel. Regina Lemnitz gefällt in der Rolle der mütterlich-verständnisvollen Mme Giry. Doch auch die Nebenrollen sind dank der Talente u.a. von Ursina Lardi, Carmen-Maja Antoni und Gerd Wameling mit prägnanten Stimmen besetzt.

Bei diesem Hörspiel wurde mit einer besonderen Aufnahmetechnik namens „Kunstkopf“ gearbeitet. Dabei wird nicht wie gewöhnlich klassisch im Studio mit einem herkömmlichen Mikrophon gearbeitet. Vielmehr ist der „Kunstkopf“ in der Lage, die akustischen Besonderheiten eines Raumes aufzunehmen, d.h. die Aufnahme erfolgt nicht in mehrere Takes, die später geschnitten und durch entsprechende Hintergrundgeräusche ergänzt werden. Vielmehr befinden sich alle an diesem Aufnahmeprozess Beteiligte in eine für die Szene passenden Räumlichkeit und spielen eben besagte Szene in einem Rutsch durch. Ob auch die gelungene Originalmusik von Michael Rodach wie auch die Opernpartien vor Ort (ab)gespielt oder diese nachträglich hinzugefügt wurden, lässt sich aus dem Booklet nicht in Erfahrung bringen. Beides schmiegt sich aber perfekt in die Geschichte ein und sorgt so für einen enorm atmosphärischen Klang. Die Kombination all dieser Zutaten macht dieses Hörspiel zu einem ungewohnt räumlichen Hörerlebnis.