Rezension

Ein ungewöhnliches Projekt

Stadtnomaden - Christina Horsten, Felix Zeltner

Stadtnomaden
von Christina Horsten Felix Zeltner

Bewertet mit 4 Sternen

»Up for a beer?«, textet Amol, als ich nach meiner Rückkehr am Schreibtisch sitze und durch das Balkonfenster auf die in der Abendsonne leuchtende Skyline schaue, die nun noch näher glitzert als vorhin im Auto. Wie sind wir nur in diesem Paradies gelandet? Haben wir wirklich gerade noch zwischen Kakerlaken in einer halb renovierten Butze in Brooklyn gewohnt? Kann man so einfach neu anfangen, in seiner eigenen Stadt?

Christina und Felix sind schockiert. Gerade eben sind die beiden in New York lebenden und arbeitenden Journalisten mit ihrer neugeborenen Tochter nach Hause gekommen, da finden sie die Kündigung eben dieser Wohnung im Briefkasten vor. Ein bezahlbares Zuhause ist in dieser Stadt nicht leicht zu finden, doch die beiden lassen sich nicht unterkriegen und nutzen die eigentlich traurige Situation, um einen lang gehegten Plan aus der Schublade zu holen und umzusetzen. Im folgenden Jahr wollen sie in jedem Monat in eine neue Wohnung umziehen, dabei die unterschiedlichsten Ecken der Stadt und sämtliche Bezirke kennenlernen. Mutig stürzt sich die kleine Familie in das Abenteuer…

 

Ich gestehe: Für mich klingt dieser Plan mehr als abenteuerlich. Und die Umsetzung, die der Leser verfolgen kann, gestaltet sich auch wirklich nicht leicht. Jeden Monat die Suche nach einer neuen Bleibe, die sich manchmal erst im letzten Moment findet, die ganze Umzugslogistik und dazu der normale Alltag, der schließlich weiterlaufen muss. Wahnsinn! Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist das Entrümpeln, die Beschränkung auf das absolut Notwendigste. Schließlich muss man am Monatsende sein Hab und Gut einfach in ein paar Ikea-Taschen verstauen können, um sie am nächsten Ziel wieder auszupacken. Ich habe mich ständig gefragt, wieso man sich so etwas antut, aber die beiden waren meist sehr zufrieden.

 

Es gibt ja auch viele positive Aspekte dieser ganzen Aktion. Schon sich von völlig Unnötigem im Leben zu trennen, kann befreiend wirken. Und dann die vielen neuen Erfahrungen, die die beiden machen! Sie lernen Ecken der Stadt kennen, die sie sich auf Dauer nie leisten könnten, erleben in manchen Monaten Luxus pur. In anderen Monaten ziehen sie in Gegenden, die sie normalerweise nie als Wohnsitz in Betracht gezogen hätten und erleben dabei Erstaunliches:
»Das reale Leben in der Bronx zerstört alle Klischees in unseren Köpfen.«
Da fängt man zwangsläufig an, darüber nachzudenken, welche Vorurteile sich im eigenen Kopf womöglich befinden.

 

Während ihrer jeweiligen Aufenthalte bemühen sich die beiden, jede neue Umgebung so gut wie möglich kennenzulernen. Sie besuchen Shops, Restaurants und Cafés, nutzen die örtlichen Sportangebote, treffen Nachbarn, geben Partys. Schnell fällt ihnen im Kontakt mit den Menschen vor Ort auf, dass diese in verschiedenen Vierteln ganz verschieden mit ihnen umgehen, dass sich reiche und arme Gegenden hier deutlich unterscheiden. Ein Punkt, der nachdenklich macht, schließlich sind die beiden doch immer dieselben Personen.
»Wo ein Mensch lebt, sagt etwas über ihn aus, über seinen Status, seine Werte und vielleicht sogar über seine politische Einstellung – ob man es will und aktiv sucht oder nicht.«

 

Ein ständiges Thema, egal in welcher Ecke der Stadt, ist das der Gentrifizierung. Höchst komplex, das wird schnell klar. Zwangsläufig macht man sich beim Lesen seine eigenen Gedanken dazu, genau wie die beiden Autoren. Diese schreiben übrigens meist abwechselnd und je Wohnung gibt es ein eigenes Kapitel.

 

Als Leser konnte ich einen ungewöhnlichen Blick auf New York werfen, ich erfuhr Dinge, die in Reiseführern meist nicht stehen. Und ich schnupperte an einer reichlich fremden Welt, in der es scheinbar normal ist, mehr für den Wohnraum auszugeben, als hierzulande in vielen Fällen zwei vollzeitarbeitende Personen zusammen verdienen. Auch der in Chinatown gelegene und als äußerst preisgünstig beschriebene Kindergarten verschlingt bereits ein hiesiges Monatsgehalt. Was müssen die verdienen? Und wie lebt man (zumal mit einem Kleinkind) ohne Waschmaschine? Gekocht wird auch nie, sämtliche Mahlzeiten auswärts gekauft oder eingenommen. Das alles wirkt geradezu exotisch.

 

Ich war bei aller Faszination über die vielen Infos zur Stadt nicht selten befremdet. Vielleicht schwingt auch eine Runde Neid mit, das will ich nicht ausschließen. Aber wie kann man über angeblich immer leere Konten klagen und dann Wohnungen für in der Spitze 250 Dollar pro Nacht beziehen? Und wo nehmen die beiden überhaupt die viele Zeit her? Für einen gutbezahlten Job muss man doch auch viele Stunden arbeiten, die beiden schaffen es aber noch, jedes Viertel ausgiebig zu erkunden, zum Joggen und zum Yoga zu gehen, viele, viele Gespräche zu führen und dazu ständig nach neuen Wohnungen zu suchen. Dazu kommen die Entfernungen zu den Arbeitsstätten und die täglichen Fahrten zur 8-18 Uhr Betreuung im Kindergarten, die je nachdem, wo die Familie gerade lebt, eine Stunde, anderthalb Stunden oder noch länger dauern können. Die kleine, scheinbar sehr ausgeglichene Tochter, kam wohl gut mit den vielen Umzügen klar. Sie hatte aber auch die tägliche Konstante im Kindergarten und war, wenn ich so darüber nachdenke, mit Hin- und Rückfahrt gar nicht so viel Zeit in der jeweiligen Wohnung.

 

Der Stil ist leicht und angenehm zu lesen, die Lektüre unterhaltsam, informativ und voller Stoff zum Nachdenken. Zu jedem Kapitel gehören Fotos und Übersichtskarten der Stadt zeigen an, wo genau sich die einzelnen Wohnungen befinden.

 

Fazit: Ein ungewöhnliches Projekt, das interessante Eindrücke liefert, die man als Tourist kaum erlangen kann.