Rezension

Eine gelungene Geschichte über ein zerrissenes Land

Die Möglichkeit von Glück -

Die Möglichkeit von Glück
von Anne Rabe

Bewertet mit 5 Sternen

Anne Rabe gibt dem jungen Mädchen Stine ihre Stimme als Ich-Erzählerin. Stine ist 1986 in der Ex-DDR geboren. Sie ist etwas älter als ihr Bruder Tim. Ihre Mutter ist Erzieherin, eine robuste, resolute Frau, die im Zweifelsfall Kopfnüsse als bewährte Erziehungsmethode verteilt. Wenn sie wütend ist, was niemand vorhersehen kann, schickt sie ihre beiden Kinder auch schonmal in die brüllend heiße Badewanne. 

Stine lernt frühzeitig Erniedrigungen, Demütigungen und Gewalt als gegeben hinzunehmen. In der Schule üben ihre Lehrer Macht aus und hacken auf ihren schwächsten Schülern rum. Stine versucht in der Mitte mitzuschwimmen, um nicht besonders aufzufallen, aber eben auch nicht unterzugehen. 

Das ganze System scheint irgendwie zerrissen. Stine gehört zu den Privilegierten weil ihre Eltern parteizugehörig waren. Ihre Freundin Ada nicht, deren Eltern waren religiös und wurden schikaniert, schon bevor sie das System zum Sturz brachten. Obwohl sie den Privilegierten damit die Freiheit schenkten. Denen, die es sowieso leichter haben würden, weil sie studiert hatten und sich viel besser anpassen konnten. Stine hingegen fühlte sich nirgendwo zugehörig, Adas Eltern verachteten sie. 

Stine hat eine feine Verbindung zu ihrem Großvater Paul. Als Erwachsene geht sie auf Spurensuche, sie will wissen wer er war, auf welcher Seite er stand, auch wenn einer seiner meisten Sätze: “Nie wieder Faschismus war!”

Alle finden die Nazis schlimm, aber niemand glaubt, dass seine Familie dazugehörte, alles Opfer, oder Widerständler.

Stines Nachforschungen führen sie in den 2. Weltkrieg. Sie entwickelt eine ganz eigene Vorstellung davon, was die Menschen in dieser Zeit erlebt haben müssen, die man uns im Geschichtsunterricht so nicht vermittelt hat. Recherchiert weiter und begegnet den unfassbaren Kriegsverbrechen. Sie erinnert die ganze Gewalt, die ihr durch ihre Mutter und Mitschüler widerfahren ist. Die Glatzen, die es schon vor dem Mauerfall gegeben hat, die mit den weißen Schnürsenkeln am Springerstiefel, die echten. Überall wurde sich ins Koma gesoffen, nur vergessen, was man erlebt hat müssen, weil einen niemand beschützt hat. 

Fazit: Anne Rabe hat ein eindringliches Stück Vergangenheitsbewältigung geschaffen, das den Appell enthält, zu verstehen und besser zu machen. Es ist eines der mutigsten Bücher, das ich gelesen habe, weil Anne Rabe so wichtige Themen wie Gewaltentstehung aus Traumata enttabuisiert und unsere “westdeutsche” wenig geistreiche Haltung entzaubert, die gerne so tut, als hätte der Aufstieg der AFD so gar nichts mit uns zu tun und sei ein rein “ostdeutsches” Problem. Auch diese Geschichte hat es völlig zurecht, auf die Shortlist des deutschen Buchpreises geschafft. Und ich empfehle sie unbedingt weiter.