Rezension

Eine irische Olive Kitteridge

Rosaleens Fest
von Anne Enright

Bewertet mit 4.5 Sternen

Inhalt
Rosaleen Madigan will ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest mit ihren erwachsenen Kindern feiern, danach soll ihr Haus an der irischen Westküste verkauft werden. Anne Enright richtet ihren Blick nacheinander auf alle vier Kinder und umfasst dabei einen Zeitraum von rund 25 Jahren. Eng mit der Familiengeschichte verbunden war in Tochter Hannas Erinnerung die Drogerie des Großvaters mütterlicherseits, die zuletzt von Onkel Bart Considine betrieben wurde. Der Drogist war damals nicht nur Herr über die Arzneimittel für Kühe und Schweine, sondern zugleich die moralische Instanz über Artikel, die ein gläubiger Ire damals nicht besitzen durfte. Die Familie Madigan war in Hannas Kindheit arm. Pat, der Vater, bewirtschaftete den winzigen Bauernhof seiner Eltern, auf dem seine Mutter allein lebte. Eine Entscheidung, die Rosaleen vermutlich nicht recht gewesen sein wird. Pats Elternhaus wirkt aus heutiger Sicht wie ein eifersüchtiges Kind, das gefälligst beachtet werden möchte.

Gemeinsam mit der alternden Mutter ist ihr reparaturbedürftiges Elternhaus auch für die Geschwister Madigan zum Klotz am Bein geworden, um den sich endlich jemand kümmern muss. Im wirtschaftlich erfolgreichen Irland stellen Haus und Grund inzwischen einen beachtlichen Vermögenswert dar, was noch nicht allen Beteiligten klar ist. Selbst wenn das Haus gewinnbringend verkauft würde, muss das auf Gefühlsebene noch lange keine kluge Entscheidung sein.

Das nahende Weihnachtsfest wird die brüchige Fassade der Familie bloßstellen, hinter der sich mühsam gebändigte Konflikte verbergen und Rosaleens schwierige, egozentrische Art. Rosaleen war schon immer chronisch unzufrieden, leicht kränkbar, eine Person auf deren widersprüchliche Signale andere Menschen nur falsch reagieren konnten. Ihre Kinder erinnern sich an sie als theatralisch und lautstark in ihrem Leiden. Vor der feindlichen Welt flüchtete die Mutter lieber ins Bett, als ihre deutlich spürbare Depression ärztlich behandeln zu lassen. Rosaleen kann austeilen, aber nicht einstecken. Doch mit über 70 angewiesen auf die Hilfe ihrer Kinder, kann sich Rosaleen den giftigen Teil ihrer Persönlichkeit nun nicht mehr leisten.

Jedes der erwachsenen Kinder bringt sein vernachlässigtes inneres Kind mit zurück ins Elternhaus. Dan ist Priester geworden und hat Irland bereits als junger Mann verlassen. Nach seiner Zeit in der New Yorker Homosexuellen-Schickeria lebt er inzwischen mit einem festen Partner in Toronto. In Dans widersprüchliches Selbstbild und seine Partnerschaftsprobleme gibt Enright tiefen Einblick.

Auch Emmet hat Irland den Rücken gekehrt, um als Arzt in aller Welt Leben zu retten. Er hat in Afrika und Asien mit Bürokratie und jeglichem Schlendrian gekämpft, so dass er sich keine Illusionen mehr über diese Welt macht. Seine afrikanische Lebensweise kann Emmet nach so langer Zeit nicht mehr ablegen und sichert auch in Irland zuerst seinen Pass unter der Matratze.

Constance nahm als junges Mädchen einen Job in Dublin an. Mit noch nicht einmal 40 ist diejenige, die alle anderen glücklich sehen will, eine erschöpfte und gesundheitlich angeschlagene Mutter dreier Kinder. Aus Hannas Sicht wird liebevoll und detailreich die Kleinstadtatmosphäre der 80er beschrieben, als Mädchen katholisch und ahnungslos zu sein hatten. Die erwachsene Hanna trinkt und ist offensichtlich therapiebedürftig. Um die realen Probleme ihrer Kinder schleicht Mutter Rosaleen in scheinheiliger Weise herum, als hätte sich in ihrem Dorf seit 40 Jahren nichts verändert.

Fazit
Anne Enright beschreibt die Beziehung zwischen den Madigans präzise und desillusionierend, als hielte sie ihren Figuren selbst den Spiegel vor die Nase. Die Figur der Rosaleen Madigan hat mich spontan an Elizabeth Strouts boshafte Olive Kitteridge erinnert. Auch Rosaleen macht einem als Leser die Entscheidung schwer, ob man sie bemitleiden oder hassen soll. Lesern von Familienromanen mit Überzeugung empfohlen.

Zitate
"Emmet musste sich zwingen, sitzen zu bleiben, weiterzuessen und ihr [Alices] Lächeln zu erwidern. Er war sechsunddreißig Jahre alt und nicht mehr so leicht zu verwirren. Er konnte von Glück reden, sie gefunden zu haben. Aber er war sich nicht sicher, ob man es Liebe nennen konnte." (S. 144)

"Sie hörten, wie sich Rosaleens kleiner Wagen draußen ins Leben hustete und die Reifen sich in den Kies fraßen. Die Auffahrt stand voller Autos - Constace's Lexus, Dessies BMW, die verbeulte Blechkiste, die Emmet dieser Tage bevorzugte. Hanna blickte aus dem Fenster und sah den Citroen ihrer Mutter auf dem Gras. Das Licht der Scheinwerfer glitt über den Stamm der Araukarie hinweg, bevor es über ein Blumenbeet hüpfte und schräg die Torpfeiler durchschnitt." (S. 315)