Rezension

Eine italienische Geschichte über komplexe soziale Beziehungen, Anziehung, Schweigen und den Versuch zu verstehen

Das Schweigen meiner Freundin -

Das Schweigen meiner Freundin
von Giulia Baldelli

Bewertet mit 4.5 Sternen

Giulia ist zehn Jahre alt, als die drei Jahre jüngere Cristi in ihr Leben tritt, und ahnt noch nicht, dass Cristi dieses bis zu ihrem Lebensende beeinflussen wird. Mit 60 Jahren, unter dem Eindruck schwerer Krankheit und dem nahenden Lebensende, ist es Cristi, die ihr ins Bewusstsein kommt und so begibt sich Giulia an den Ort ihrer Kindheit und der ersten Begegnung mit Cristi. 

 

Es ist das Jahr 1991 in einer Kleinstadt in der italienischen Provinz, hier lebt Giulia mit ihren Eltern ein ruhiges Leben, die Familie ist angesehen, hat ein Haus, Giulia selbst ist Klassenbeste und hat viele Freundinnen. Da bittet die alte Nonna Ida, eines Sommers Giulias Mutter, ob sich Giulia nicht an den Vormittagen ihrer Enkelin aus Bologna annehmen kann, Cristi.

 

So unterschiedlich die beiden Mädchen sind - Giulia als Klassenbeste, überlegt, mit gesundem Appetit, für die Sonne unempfindlicher Haut und Cristi, blond, mager, schlecht in der Schule und Legasthenikerin, impulsiv - üben sie eine gegenseitige Faszination aufeinander aus.

 

In sechs Teilen von 1991 an begleitet Baldelli das Kennenlernen, Aufwachsen, die Annäherung und das Erwachsenwerden von Giulia, Cristi und etwas später auch Mattia, der die Dynamik der Freundschaft im zweiten Sommer entscheidend verändern soll, und ihrer komplexen Beziehung zueinander. So zeichnet die Autorin auch ein Porträt des Aufwachsens in der italienischen Provinz in den 90ern und lässt uns in Bräuche, Kultur, Zusammenhalt aber auch Gerüchte und Vorurteile eintauchen, die das kleinräumige Zusammensein mit sich bringt. Insbesondere Cristis Nonna Ida hat mich hier sehr beeindruckt, die als Analphabetin und in Armut lebend, ihren Weg geht und sich gegen Gerüchte und Vorurteile in der Kleinstadt behauptet. Die zugewandte, und nie oberflächliche Zeichnung der Protagonist*innen und ihre gelungene Einbettung in die Erzählung hat die Geschichte für mich zusätzlich bereichert.

 

Die Sprache ist unglaublich einnehmend und zieht sofort in den Bann der Geschichte. Aus Giulias Perspektive tauchen wir ein in ihre ersten Begegnungen mit Cristi, die anfänglichen Vorbehalte, die sich mit Bewunderung und Zuneigung mischen, den Konflikt widerstrebender Gefühle in ihr und schließlich das zunächst zarte, jedoch schnell fester werdende Band zwischen Giulia und Cristi, das im weiteren Verlauf des Lebens nicht seine Widersprüche verliert und trotzdem das Schicksal der einstigen Kinder untrennbar vereint. So spinnt Baldelli komplexe soziale Beziehungen und Charaktere, und verliert dabei auch die Prägung durch die Klassenlage mit all ihren Konsequenzen nicht aus dem Blick.

 

Etwas ärgerlich sind lediglich einige Logikfehler durch Verwechslung der Namen, hier hätte ich mir mehr Sorgfalt im Korrektorat gewünscht.

 

Man mag kaum glauben, dass es sich um ein Debüt handelt, so wohl konstruiert ist die Geschichte und einnehmend die Sprache. Ein wundervoller Roman, der mich auf weitere Publikationen der Autorin hoffen lässt!