Rezension

Eine Lehrerin aus Leidenschaft

Die überaus talentierte Miss Hempel - Sarah Shun-Lien Bynum

Die überaus talentierte Miss Hempel
von Sarah Shun-lien Bynum

Bewertet mit 4 Sternen

Am Tag der Schulaufführung summt es in der Schule wie vor einem Bienenkorb. Dennoch gelingt es Miss Beatrice Hempel in dem allgemeinen Gewusel, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Miss Hempel wirkt anfangs wie eine unscheinbare Englischlehrerin in mittleren Jahren. Eine Frau, die eine Puderdose benutzt, eine Boa Constrictor hält und auf eine Jugend mit blauen Haaren und Punk-Outfit zurückblickt? Miss Hempels Gedanken zeigen indes ihre Leidenschaft für die Englische Sprache und ihr bemerkenswertes Talent, Heranwachsende selbst in schlimmsten Zeiten pubertärer Sinnsuche zu fördern und zu ermutigen. Selbst wenn Beatrice ihre Grenzen kennt und sich aus Diskussionen über das Tagesgeschehen mit ihren Achtklässlern klugerweise heraushält, gewann sie meine ganze Sympathie durch ihre unaufgeregte Art, aus jedem Schüler das Beste herauszuholen. Beatrice ist wohl deshalb eine so außergewöhnliche Lehrerin, weil sie sich an manchem Tag selbst durch den Schulalltag schleppt und spürt, wie ihre Talente ihr im Alltag abhandenkommen. Die eingeschobene leicht ironische Betrachtung ihrer Motivation für den Lehrerberuf lässt in einigen Szenen ganz wie zu Beginn der Geschichte eine Person am Rande der Midlife-Krise vermuten. Doch Beatrice versteht es, Schüler und Romanleser zu verblüffen. Wie Pralinen verteilt sie ungewöhnlich schillernde Adjektive an ihre Schüler, von denen sie sicher ist, dass die sie erst nachschlagen müssen. In der Tradition ihrer eigenen Englischlehrerin wirkt sie bei den Jugendlichen als Sprachverführerin. Was ist beispielsweise umgänglich oder inspirierend - raffinierte Kritik oder Kompliment? Sicher ist, dass Beatrice das Denken und den Wortschatz ihrer Schüler infiltriert, auch wenn sie sich nur schwer vorstellen kann, dass ihre "Vollsp*cken" eines Tages zu verlässlichen Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen werden.

Geradezu anarchisch lebt Ms Hempel ihren rebellischen Geist aus, indem sie ihre Schüler die Wortgutachten selbst schreiben und frohgemut ihre Unterschrift darunter fälschen lässt, um - April, April! - nur kurze Zeit später die Eltern über die schriftstellerischen Talente ihrer Sprösslinge zu informieren. Wer Bücher liebt, wird sich nur zu gern davon hinreißen lassen, wie Ms Hempel mit Schülern, die normalerweise keine Bücher mögen, "This Boy's Life: Das Blaue vom Himmel" von Tobias Wolff liest. Dass diese Schüler einmal selbst über ihr Leben schreiben werden, scheint keine unrealistische Vorstellung mehr. Beatrice verliert sich in Erinnerungen und Träumen, die sich so überlappen, dass man sich nicht immer sicher sein kann, ob man gerade Beatrices Leben folgt oder von ihr zu einer in die Handlung eingeschobenen Geschichte verführt wird. Zwischen Begegnungen mit einem Mann namens Amit, mit Beatrices Jugendfreundinnen, ihrer Großmutter als Einwanderin und ihrem phantasievollen Bruder Calvin bleibt Raum für die Idee, Schule könnte für die noch überraschend junge Lehrerin auf Identitätssuche auch Flucht in ein sicheres Arbeitsverhältnis sein.

Ms Hempels Eskapaden sind eng mit dem amerikanischen Schulsystem verknüpft und erfordern deshalb von lehrplangestählten deutschen Lesern eine ungestutzte Phantasie. Sarah Shun-Lien Bynum knüpft aus charmanten Einzelszenen das Portrait einer Lehrerin mit ansteckender Begeisterung für die Sprache. Ms Hempels Idealismus und die liebevoll bis rührselig gezeichneten Schülerpersönlichkeiten werden Leser begeistern, die gern Entwicklungsgeschichten lesen.

Textauszug
"Ein paar Jahre zuvor waren Gedichte in U-Bahnen und Bussen aufgetaucht, wo sonst Werbung für Bonitätsverbesserung und Hautärzte gehangen hatte. Und sobald ein neues Gedicht hing, ersann Ms Duffy [Beatrices Kollegin] einen Plan, es zu besorgen. Sie kundschaftete leere U-Bahn-Wagen aus, erkletterte die verschrammten Sitze, fummelte das Gedicht aus der gekrümmten Plastikhülle und versteckte es unter ihrem langen Wintermantel. Und all das zum Wohl ihrer Fünftklässler! Jeden Tag konnten sie aufsehen und über die Worte nachdenken. Oder auch nicht, und darin lag die Schönheit der Osmose." (S. 172)