Rezension

Erwartungen an das Schicksal

Große Erwartungen - Charles Dickens

Große Erwartungen
von Charles Dickens

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Lebensweg des Waisenjungen Pip scheint vorgezeichnet: als Prügelknabe der Schwester bei der er lebt, als generelles personifiziertes Übel des Dorfes, wird er bei seinem Schwager eine Schmiedelehre machen und sein Rückzugsort bleibt das kalte, einsame Moor. Doch da greift eine unbekannte Macht ein, die Pip zu Wohlstand und Bildung verhilft, seine großen Erwartungen fördert und ein glanzvolles Leben in London ermöglicht. Erwartungsvoll blickt Pip dem Tag entgegen, der ihm seinen Wohltäter offenbaren soll. Dann wird sich sein Geschick erfüllen.

Ein klassischer Dickens. Ein Roman der von Melancholie und Düsternis schwer wird wie das neblige Moor, in dem Pip aufwuchs. Diese Schwere bleibt an Pip und dem Leser kleben, lässt die Geschichte manchmal zäh und hoffnungslos wirken, doch dann blitzt, gleich einem Sonnenstrahl, Dickens Humor auf und der Leser weiß wieder, was er an dem Buch hat. Skurrile Figuren und schräge Einfälle sorgen immer wieder für eine Überraschung.

Manchmal fand ich die Charaktere unerträglich und in der Mitte zog sich die Geschichte etwas, aber trotzdem bin ich begeistert. Vor allen Dingen im letzten Drittel wird es noch mal spannend, denn genau wie Pip, fiebert der Leser dem Moment entgegen, in dem sich die Frage des Gönners klärt. Tja, und danach geht es noch mal richtig rund.

Ein anspruchsvolles Buch mit ein paar Längen, die es den 5. Stern gekostet haben, aber trotzdem ein toller Dickens. Die Übersetzung von Melanie Walz ist großartig und der umfangreiche Anhang mit Hintergrundinformationen sowie Anmerkungen eine hervorragende Ergänzung. Schade, dass bei dieser Ausgabe auf die Originalillustrationen verzichtet wurde (bei „Nickolas Nickleby“ sind sie durchaus vorhanden), aber das ist auch alles, was ich anzumerken habe. Eine tolle Dickens-Ausgabe, eine wunderbare Geschichte – was will man mehr?