Rezension

Es fehlt an Emotionalität

Genau richtig - Jostein Gaarder

Genau richtig
von Jostein Gaarder

Bewertet mit 3.5 Sternen

Rückblick auf viele schöne Jahre

„Ich sitze dem allen jetzt ganz allein gegenüber. Das ist jedoch irgendwie auch ein gutes Gefühl. Es bedeutet eine gewisse Freiheit. Ich muss ganz für mich selbst eine Entscheidung treffen. Aber wenn ich das tue, dann wird es für uns beide sein, ich meine, für uns alle fünf.“

Inhalt

Albert und Eirin haben fast ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht, sie sind durch viele Höhen und Tiefen gegangen, haben aber letztlich aneinander festgehalten und ihren Lebensweg gemeinsam bestritten. Und während Eirin auf einem Kongress weit weg von ihrem Mann ist, erhält dieser von seiner Ärztin, die ehemals auch seine Geliebte war, die vernichtende Diagnose über eine Krankheit, die ihn binnen kurzer Zeit zum Pflegefall machen wird und ihn letztlich das Leben kosten wird. Er fährt noch einmal hinaus an das gemeinsame Haus am See, füllt dort die Seiten des Hüttenbuchs mit seinen Erinnerungen an ein gelebtes Leben und muss sich allein darüber im Klaren werden, ob er die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, mit seiner Familie verbringen möchte, oder ob er dem unaufhaltsamen Prozess des Sterben entgegeneilt, um ohne unvermeidliche Verluste einen Schlussstrich zu ziehen.

Meinung

Vor vielen Jahren habe ich vom norwegischen Bestsellerautor Jostein Gaarder sein Buch „Sophies Welt“ gelesen und vor nicht allzu langer Zeit seinen Roman „Ein treuer Freund“. Beide Bücher beschäftigen sich mit einem Themenkomplex, den ich wahnsinnig gern in literarischen Texten wahrnehme, weil es dabei um viel mehr geht, als um ein Leben und das individuelle Schicksal, vielmehr sind es die großen Zusammenhänge der Welt, die Menschlichkeit und die Ängste Einzelner, die durch Interaktion mit anderen gemildert werden. Und so geht es auch hier um einen sterbenskranken Mann, dem es in Anbetracht seiner ihm noch verbleibenden Lebenszeit zwar gut geht, dessen Stunden aber gezählt sind. 

Mit dem Untertitel „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, trifft es den Inhalt des Buches schon sehr genau, denn Albert macht nichts weiter, als sich an sein Leben zu erinnern. Im Rückblick beschreibt er seine Liebesbeziehung zu Eirin und sein Verhältnis zu Marianne, er lässt Augenblicke des Glücks und der Freude Revue passieren und versetzt sich in Vergangenes hinein, um möglicherweise eine Frage zu finden, die ihm mit dem, was kommen wird, versöhnen könnte. Was passiert mit dem Mensch, wenn er nicht mehr da ist? Was geschieht der Menschheit, wenn alles so schrecklich vergänglich ist und nichts von Bestand? Wer wird sich an ihn erinnern, wenn er gestorben ist und welche Spuren konnte er überhaupt hinterlassen?

Diese philosophischen Ansätze haben mir, wie immer sehr gut gefallen. Sie äußern sich in schönen Sätzen, über die man gerne nachdenkt. Es geht um das Leben, die Verluste, die Wünsche, die Rückschläge und die tiefe innere Überzeugung, das jedes Individuum, wie klein es auch sein mag und wie kurz es auch auf Erden existierte, immer irgendwo eine Entwicklung voranbringt, die in ihrer Summe einzigartig und wunderschön ist. Dadurch das dieser kurze Roman aber nur 125 Seiten umfasst und stellenweise sehr profane Dinge schildert, fehlt ihm eine gewisse Präsenz. Manchmal versteigt sich Albert regelrecht in seine Erörterungen, er fabuliert und denkt, ohne sich der tatsächlichen Auswirkungen seiner Selbst bewusst zu werden. Dadurch bleibt die emotionale Ebene, die dieses Buch direkt ansprechen könnte, seltsam leer. Es missfällt mir wirklich, wenn die an sich schon traurige Botschaft, das alles endlich ist, so nachhaltig vergeistigt wird und es nicht mehr um den Menschen geht, sondern nur noch um das Universum. Ich denke, diese distanzierte Schreibweise hätte sich auch nicht geändert, wenn der Roman den doppelten Umfang gehabt hätte. Deshalb war er so, wie er ist genau richtig.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunde. Leider erfüllt das Buch nicht den Anspruch, den ich ursprünglich an es hatte, obwohl fast alle Gedankengänge, die aufgegriffen werden, plausibel erscheinen, konnte es mein Leserherz nicht erreichen. Vieles bleibt im Verborgenen, die Protagonisten sind eher willkürlich und ersetzbar, die endgültige Entscheidung für oder gegen einen Sachverhalt wird zwar gefällt, nicht aber ausreichend begründet. Manches scheint Zufall, vieles scheint Schicksal, alles scheint einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Dennoch hat mir die Geschichte an sich gut gefallen, vielleicht muss man auch ein Auge zudrücken und nicht so viel Vergleiche mit anderen Texten ziehen, um diesen hier wirklich genießen zu können. Als Einstieg in die Materie der philosophischen Gedankenwelt ist es ein gutes Buch, wer bereits andere Bücher mit ähnlichen Strukturen kennt, wird möglicherweise enttäuscht sein.