Rezension

Fakten und Fiktion

Verloren in Eis und Schnee - Davide Morosinotto

Verloren in Eis und Schnee
von Davide Morosinotto

Bewertet mit 3.5 Sternen

„Die Mississippi-Bande. Wie wir mit drei Dollar reich wurden“ hatte unserer ganzen Familie 2017 sehr gefallen. Als der Thienemann-Verlag angekündigte, ein weiteres Buch des italienischen Autors Davide Morosinotto herausbringen zu wollen, habe ich mich daher unheimlich gefreut.

Wieder ist es ein Kinderabenteuer, wieder ein historisches. Während die „Mississippi-Bande“ jedoch Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA angesiedelt ist, geht es in „Verloren in Eis und Schnee“ zeitlich etwa 40 Jahre weiter, in einen ganz anderen Teil der Welt: Nämlich nach Russland während der Leningrader Blockade. Die Stadt (heute St. Petersburg) wurde während des Zweiten Weltkrieges 871 Tage lang von der deutschen Armee belagert und von der Versorgung abgeschnitten. Mehr als eine Million Menschen starben, meist infolge Hungers. Morosinotto kombiniert nun Fakten mit Fiktion. Es ist, wie es selbst im Nachwort schreibt, ein „nahezu“ historischer Roman:

Kurz vor den ersten Angriffen der Deutschen werden die 13jährigen Zwillinge Viktor und Nadja mit dem Zug aus der Stadt evakuiert, jedoch aufgrund eines Irrtums am Bahnhof getrennt. Viktor landet mehr als 1000 km von Leningrad entfernt in einer Kolchose in Kasan, während Nadjas Zug schon kurz hinter Leningrad aufgehalten wird. Aus zunächst unklaren Gründen heißt es offiziell, Nadjas Zug sei von den Deutschen bombardiert und zerstört worden. Alle Passagiere seien ums Leben gekommen. Viktor ist davon überzeugt, dass seine Schwester lebt und macht sich mit einer Gruppe Kinder auf den langen und beschwerlichen Weg Richtung Heimat.

Der Titel „Verloren in Eis und Schnee“ veranschaulicht gut, mit welchen Schwierigkeiten Viktor und Nadja im Laufe der Geschichte zu kämpfen haben. Denn damit sind nicht nur die eisigen Witterungsbedingungen gemeint, sondern auch die menschliche Kälte und Gräueltaten während des Krieges.

In Form von Tagebucheinträgen folgt man den Erlebnissen der Kinder, die sich – umrahmt von Kartenausschnitten, Fotografien, Skizzen und (fiktiven) Dokumenten – erstaunlich authentisch lesen. Schon die Mississippi-Bande war gestalterisch besonders. Auch hier fällt die hochwertige Aufmachung sofort ins Auge, obgleich mir nicht bekannt ist, wie groß der Anteil des Autors daran ist. Ich habe mit diesem Buch sehr viel mehr Zeit verbracht als üblicherweise mit Büchern. Teilweise habe ich minutenlang Illustrationen betrachtet.

Die Erzählweise erfordert jedoch Aufmerksamkeit. Viktor und Nadja schwenken von der Nahaufnahme ihrer persönlichen Empfindungen immer wieder in den historischen Kontext. Das Lesen gestaltet sich informativ, interessant, aber auch distanziert, beschreibend. Das Romanhafte tritt des Öfteren in den Hintergrund. Zumal viele Etappen nur knapp zusammengefasst werden.

Auch die Perspektivwechsel zwischen Viktor und Nadja sowie die gelegentlichen Einsprengsel eines gewissen Oberst Smirnows, der die Tagebücher der Kinder rückwirkend liest und mit handschriftlichen Kommentaren versieht, verlangen Konzentration.

Ein gewisses geschichtliches Interesse hilft. Bei jüngeren Kindern schadet eine Lesebegleitung durch Erwachsene nicht, da im Alter von 12 Jahren die Thematik meines Wissens nach noch kein verbreitetes Schulthema ist. So hätten ein kurzer zeitlicher Abriss oder eine erklärende Zusammenfassung der realen Abläufe im Anhang nicht geschadet.

Hat man sich einmal an den Rhythmus des Buches gewöhnt, verleiten die Fragen, wie sich die Kinder am Ende wiederfinden, was es mit dem Gerücht um den zerstörten Zug auf sich hat und ob seitens Oberst Smirnows Gefahr droht, zum Weiterlesen. Man begleitet Viktor und seine Gefährten durch karge Landschaften, erlebt, wie es die ständig kleiner werdende Gemeinschaft in einen Gulag verschlägt und befindet sich an Nadjas Seite, während sie bei der Verteidigung der Festung Schlüsselburg mithilft, eine der letzten Bastionen gegen die deutschen Truppen.

Es ist kein Heile-Welt-Buch. Krieg ist Krieg. Und kein Abenteuer, auch wenn sich die Geschichte manchmal so liest. Dass beide Kinder überleben, ist früh klar. Andere haben weniger Glück: Gefährten gehen verloren, werden ermordert, sterben durch Hunger und Kälte. Weil Ereignisse und Figuren aber kaum vertieft werden, gehen sie dem Leser nicht zu nahe. Es ist ein schriftstellerischer Balance-Akt, historische Fakten und Roman miteinander zu verweben, der Morosinotto meinem Empfinden nach erzählerisch nicht durchgehend fesselnd gelungen ist. Zweifelsohne ist es aber ein besonderes Buch, mit Mehrwert und der klaren Intention, eine Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen.