Rezension

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Doppelte Spur - Ilija Trojanow

Doppelte Spur
von Ilija Trojanow

Bewertet mit 4 Sternen

Stellen Sie sich vor, sie sind Chefredakteur einer Zeitung oder eines Magazins und ein freier Mitarbeiter erhält ein Angebot für die Panama-Papers des 21. Jahrhunderts. Nur dumm, dass zwei Whistleblower  parallel ihren Journalisten per Mail kontaktieren, quasi ein doppeltes Leak  – ein englischsprachiger und ein russischsprachiger Informant. Ilija Trojanows Protagonist heißt wie der Autor und spricht Russisch, aber warum sollten zwei konkurrierende Geheimdienste Kontakt zu ihm aufnehmen? Der Roman-Ilija sichtet nun einen Wust an unsortierten Dokumenten, zusammen mit einem Kumpel, der zu dessen Sicherheit im Roman unter dem Decknamen Boris auftritt. Ilija interessiert sich dabei für das Thema Macht und Boris für die Gier als Antrieb. Die Dokumente reichen zurück bis in die 70er bis 90er des vorigen Jahrhunderts, als sich DDR und UdSSR auflösten. Gigantische Geldbeträge flossen in die Taschen von Wendegewinnlern und US-Beamten. Die Informationen zeigen, dass heute nicht mehr Mafia-Gruppen in Staaten agieren, sondern Staaten Teile der Mafia sind.

Stets mit der Frage im Hinterkopf, ob sie gerade einer dreisten Fälschung auf den Leim gehen, folgen die Männer der Spur des Geldes. Ein mafiöses Netzwerk zwischen „Schiefer Turm“, einem millionenschweren New Yorker Immobilienbesitzer, dem russischen Präsidenten, Ost- und West-Geheimdiensten und einem einflussreichen Mann mit kriminellem Interesse an Minderjährigen ist offensichtlich. Dass Ilija  mit seinen Russland-Kenntnissen der ideale Mann für die Recherche ist, scheint  Boris und ihm jedoch etwas zu auffällig. Schließlich taucht die Filmemacherin Emi auf, die zehntausende von Dokumenten gesichtet hat, um den Missbrauch zu junger Mädchen durch einen Herrn Wasserstein zu beweisen. Wasserstein, Weinstein, Epstein, ihre Verharmloser und Unterstützer; Fakten und Fiktion sind hier nicht mehr zu trennen. Für Emi ist dabei deprimierend, wie viele „Mäzene und Philantropen“ W. legitimierten und unangreifbar für die Strafverfolgungsbehörden machten. Beim Lesen habe ich ab und zu an meiner Wahrnehmung gezweifelt. Dass eine ganze Gesellschaft wegsehen kann, wie minderjährige Mädchen quasi als Ware transportiert und verschachert wurden, ohne dass ein Erwachsener einschritt …

Washington und Moskau schmiegen sich auf der Coverabbildung aneinander wie zwei Erbsen in der Schote. Fakten und Fiktion, hier harmlos als „Roman“ bezeichnet, liegen ebenfalls deprimierend nah beieinander. Ilija Trojanow spiegelt thrillerreif Romanfiguren in realen Personen, die nur geringfügig verfremdet werden. Wer  die Anspielungen aufnehmen und selbst spekulieren möchte, sollte sich überraschen lassen und vorher keine Rezensionen lesen.