Rezension

Fallstricke der Natur

Sein Name war Annabel -

Sein Name war Annabel
von Kathleen Winter

Bewertet mit 3 Sternen

In der Kindheit sind viele Dinge scheinbar leicht und selbstverständlich. Doch vergessen wir mit dem Alter nicht einfach die vielen kleinen Unsicherheiten, die uns beim groß werden quälten? Mögen mich die anderen? Bin ich genauso hübsch wie die anderen Mädchen? Bin ich normal? Wie finden mich die anderen Kinder aus der Klasse? Sehe ich in Kleidern nicht doof aus? Sollte ich mir auch die Haare lang wachsen lassen? Wenn ich ehrlich bin, gehen mir diese Gedanken auch als Erwachsene immer noch durch den Kopf. Trotzdem fühle ich mich meistens ganz wohl mit mir und in meinem Körper. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie es sich anfühlen muss, wenn du deinen Körper als fremd empfindest und gern in einer anderen Haut stecken würdest. Oder wenn, Frau und Mann in dir steckt. In unserer Gesellschaft sollen die Dinge und Menschen gern eindeutig zuordbar sein. Individualität ist zwar eines der Schlagworte unserer Zeit, doch über diese Individualität will man selbst bestimmen. Wayne ist in eine Zeit und eine Gegend geboren, in der Anderssein Probleme mit sich brachte und das Leben erschweren konnte. So hat sein Vater entschieden, dass aus dem neugeborenen Kind ein Wayne wurde und keine Annabel. Denn beide Geschlechter waren in dem Baby veranlagt. So wuchs Wayne am Rande der kanadischen Zivilisation in den 1970er Jahren als Junge auf, unter den wachsamen Augen seiner Eltern. Für den Vater war er nie jungenhaft genug und die Mutter trauerte der verlorenen Tochter nach. Zwischen den Eheleuten wurde es immer stiller und Sprachlosigkeit machte sich breit.

Kathleen Winters Roman wirkt aus der Zeit gefallen. Ihr Erzählstil mutet etwas altmodisch an und der Schauplatz in Kanadas Wildnis wirkt wie eine Insel fern der Zivilisation. Während in den großen Städten die sexuelle Revolution tobte und Frauen ihre Stimme erhoben, ist in Croydon Harbour die Welt strikt aufgeteilt zwischen den Männern und Frauen. Die Männer versorgen die Familie, gehen Jagen in der Wildnis, erledigen alle Dinge um Haus und Grundstück. Die Frauen verpflegen und sorgen sich um die Familie. Ihr Reich ist das Innere des Hauses, das Essen, die Wäsche, der Garten. Für Träume scheint kein Platz. Die Natur ist hart und unerbittlich. Die Winter lang, die Sommer kurz. Wie will man es einem Jäger also verdenken, wenn er sein zweigeschlechtliches Kind als Junge aufziehen will? Das männliche Geschlecht wird immerhin als das starke Geschlecht benannt. Wird er nicht bessere Chancen als Mann im Leben haben?

Ich bin nicht ganz sicher, wie ich Winters Roman lesen soll. Sie wirft mit den Geschlechterklischees um sich, dass einem die Ohren klingeln. Wayne wird lange nicht erzählt, was mit ihm los ist. Die Mediziner treffen halbherzige Entscheidungen, die Medikamente wirken nicht richtig. Der Junge lernt auf eine sehr schmerzhafte Weise, dass er anders ist als die anderen und wird dann damit allein gelassen. Überhaupt ist die Sprachlosigkeit wohl das größte Problem innerhalb der Familie. Jeder steht für sich allein und dem Jungen wird regelrecht anerzogen, dass er Entscheidungen des Vaters oder der Mutter nicht in Frage zu stellen hat. Zwischendurch bin ich unsicher, wie glaubwürdig ich die Geschichte nehmen soll. Doch ich bin auch ein gutes Jahrzehnt später als Wayne auf die Welt gekommen. In meiner Jugend gab es die Bravo, die in den 90er Jahren einen großen Teil der sexuellen Aufklärung übernahm, bis dann das Internet kam. Der Zugang zu Informationen wurde immer leichter, seit 10 Jahren ist Diversität ein fester Bestandteil des alltäglichen Diskurses. Das Transgender-Sternchen in der Ansprache wird aktuell kontrovers diskutiert. Es gibt nicht mehr länger nur zwei Geschlechter. Das Leben ist vielfältiger. Es ist immer noch nicht leicht anders zu sein, aber die Möglichkeiten und das Verständnis hat sich doch zum leicht besseren gewandelt. Aus Winters Roman bleibt mir vor allem die Sprachlosigkeit hängen und das begrenzte Leben der Menschen – im Außen wie im Innen.