Rezension

Familie auf italienisch

Der Duft von Erde und Zitronen - Margherita Oggero

Der Duft von Erde und Zitronen
von Margherita Oggero

Bewertet mit 4 Sternen

Ein kleiner Ort in der Nähe von Neapel. Assunta und Saverios Söhne sind erwachsen, und die beiden könnten sich auf einen geruhsamen Lebensabend zu zweit freuen. Stattdessen wird Assunta schwanger, bekommt ein Mädchen, Melina, das mit 17 ein Kind von einem Hallodri erwartet, Imma, und bald von ihm verlassen wird.
Don Raffaele herrscht über den Ort. Man munkelt, er sei in diverse Verbrechen verwickelt, aber bisher konnte ihm nichts nachgewiesen werden. Auf jeden Fall befindet man sich auf der sicheren Seite, wenn man es sich mit Raffaele nicht verdirbt.
Als Imma eine schreckliche Tat beobachtet und geschützt werden muss, bleibt der Familie nichts anderes übrig, als sie weit weg zu schicken, wo niemand sie kennt. Ohne Schule, ohne Freunde, Familie und die vertraute ländliche Umgebung fühlt Imma sich einsam und gefangen. Bis sie den ersten Ausbruchversuch wagt. 

So stellt man sich – zumindest literarisch – italienisches Familienleben vor: Chaotisch und behütend. Eine bestimmende (Groß)Mutter, die die Fäden in der Hand hält und weiß, was das Beste für jeden ist. Männer, die an Autos schrauben, das Wort führen, aber sich im Alltag hinter einer Frau verstecken. Kinder, die sich auch als Erwachsene im Schoß der Familie am wohlsten fühlen. Eine warme Küche, ein gut gedeckter Tisch und ein herzliches Willkommen für die jungen Frauen und Männer, die die Kinder sich als Ehepartner aussuchen – solange die Neuzugänge sich an Familientraditionen halten, sich ebenfalls um das Gemeinwohl sorgen und sich als eifrig und arbeitsam erweisen. 

Kein Wunder, dass Imma sich verlassen und vereinsamt fühlt ohne den schützenden Hort ihrer Familie. Die alleinstehende Tante Rosaria, die den Tag über ihrer Arbeit nachgeht und sich am Wochenende mit ihrem Liebhaber trifft, kann nicht das quirlige Leben ersetzen, in dem Imma sich bisher zuhause fühlte. Doch nicht nur das: Imma macht das kühle Wetter des Nordens zu schaffen, und sie erlebt die Stadt als trostlos und öde. Obendrein ist es ihr verboten, die Wohnung der Tante zu verlassen; die Gefahr, dass jemand aus der alten Heimat Späher ausgeschickt hat, um sie zu finden, ist zu groß. Und sollte es geschehen, dass man sie entdeckt, so schweben Imma und ihre ganze Familie in Lebensgefahr. Außerdem muss sie sich davor hüten, von der Polizei aufgegriffen zu werden.

Einen großen Teil der Spannung bezieht das Buch aus der Frage: Warum? Leider erfährt man sowohl im Klappentext, als auch bei Amazon die Antwort.

Doch bis dahin wird ein weiter chronologischer Bogen gezogen von den Umständen um Immas Geburt über das Leben ihrer Verwandten und Geschehnisse im Ort bis zu ihrer Jugend und ihrer Freude daran, allein durch die Landschaft zu streifen und ihren Gedanken nachzuhängen. 
Aber auch die Rosaria lebt allein in der Stadt, auch sie verließ ihre Heimat, dort allerdings einen feigen Ehemann, dessen schönes Haus und eine zänkische Schwägerin. Rosaria ist nicht verwandt mit Imma. Eine der komischsten Szenen des Buches führt dazu, dass Rosaria mit sanftem Druck und leichter Erpressung von Immas Familie dazu gebracht wird, mit dem Mädchen wegzuziehen und sich um es zu kümmern.

Als Imma zum ersten Mal den Mut findet, für eine kurze Zeit der engen Wohnung zu entfliehen, lernt sie Paolo kennen, der auf dem Markt mit gebrauchten Büchern handelt. Imma muss die Bücher verstecken und heimlich lesen. Dennoch: Die Bekanntschaft mit Paolo, der Wunsch, ihn wiederzusehen, und die Bücher geben ihr immer mehr Courage, und am Ende schafft sie es, einen möglichen Weg aus ihrer aussichtslosen Situation zu entdecken.

Ein facettenreicher Roman, der auf ansprechende, liebenswerte Art wichtige und zugleich alltägliche Themen aufgreift: Mut, Freiheit, Familie, Liebe, Verantwortung. Unterhaltsam und eingängig, dabei aber nicht oberflächlich geschrieben.
Zu empfehlen für alle, die besondere Familiengeschichten mit einem Schuss Spannung mögen.

Ein lesenswerter Roman mit dem typischen Flair des sonnigen italienischen Landlebens.