Rezension

Fischreiches Gewässer ...

Verloren im Cyberspace -

Verloren im Cyberspace
von Joachim Köhler

Bewertet mit 4 Sternen

Da das Gewässer äußerst fischreich ist, beißt immer etwas an, wenn auch nicht immer das Richtige.

In diesem Buch geht es um Segen und Fluch des Internets, wobei der „Segen“ eher offensichtlich ist, der „Fluch“ aber unmerklich unter der Oberfläche brodelt und sich erst zeigt, wenn man schon tief in die Sache verstrickt ist. Joachim Köhler hat für uns einen ausführlichen Blick unter diese Oberfläche geworfen und eine kleine Kulturgeschichte der Cyberwelt erstellt, die sich kurzweilig liest und immer wieder nach Luft schnappen lässt.

Köhler entwirft hier ein düsteres Zukunftsszenario, und seine Analogien und Schlüsse sind teils so frappierend, dass einem angst und bange werden kann. Wir finden kernige Statements und Metaphern in jedem Kapitel, auf jeder Seite.

Im antiken Mythos war es die Sphinx, die dem Menschen Rätsel vorlegte. Konnte er sie nicht lösen, brachte sie ihn um.

Es begann mit der vergessenen Revolution der Studentenbewegungen der Siebziger, die weg vom Konsum wollten, hin zu mehr Menschlichkeit und Freiheit. So ging es auch mit dem Silicon Valley los.

Was sich in Zahlenkombinationen ausdrücken ließ, existierte nun jenseits von Zeit und Raum. Alles war machbar, und alles war am Platz. Damals begann etwas im Silicon Valley, das man die Verfügbarmachung der Welt nennen könnte.

Nur dass die Entwicklung letztendlich in eine ganz andere Richtung ging, als die, die den Cyber-Pionieren damals vorschwebte. Köhler wagt den Vergleich mit dem Vatikan des 12. Jahrhunderts, der treffender ist, als man das gerne möchte:

Was aus menschheitsverbindendem Idealismus entstanden war, entwickelte sich zur größten Geld- und Machtmaschine aller Zeiten.

Köhler fordert uns auf, Sätzen wie „Kontrolle ist besser als Vertrauen“ zu misstrauen. Er macht ihre Quelle ausfindig. Er entlarvt die hehren Heilsversprechen der Internetindustrie (Völkerverständigung etc.) anhand schlichter Tatsachen wie der, dass die Cyber-Multis im Silicon Valley noch nicht mal Steuern zahlen. Hart geht der Autor mit dem Prinzip der „Corporations“ ins Gericht, mit der fest im Hirn des modernen Erfolgsmenschen implantierten Pflicht der Profitsteigerung.

Ein echter Pluspunkt des Buches ist, hier mal die einzelnen Schritte anschaulich erklärt zu bekommen, wie sich die Computertechnik entwickelte. Nebenbei erklärt Köhler auch kurz und verständlich viele Begriffe der Computerwelt, wie z.B. HTML oder Trigger.

Gekonnt und metapherreich setzt Köhler gesellschaftliche Entwicklungen miteinander in Beziehung. Sehr gefallen hat mir, wie er immer wieder frappierende Parallelen zu großen Philosophen und Literaten zieht, oder beispielsweise die literarisch-mythologische Seite des Trollbegriffs ein wenig beleuchtet. Spannend fand ich auch die Analogie zur literarischen Gestalt des Schlemihl (Chamisso), der seinen Schatten verkauft wie der Internet-User seine Identität. Fast scheint mir dieses Buch manchmal eher eine große philosophische Abhandlung zu sein, denn ein Faktenbuch.

Das Buch enthält gleichzeitig aber auch eine kleine Geschichte der Entwicklung der PR. Wer die Hergänge noch nicht kannte, erfährt hier, wie die letzte Wahlkampfphase Donald Trumps gegen Hillary Clinton funktionierte („Pizzagate“) und demokratische Wähler gezielt dazu gebracht wurden, zu Hause zu bleiben. Harter Tobak. Wir lesen von der Gefahr, dass Kinder und Jugendliche durch die Cyberwelt systematisch umkonditioniert werden; Köhler belegt hier sehr schlüssig anhand der Gehirnforschung, warum das geht.
Aber es kommt noch schlimmer. Am Schluss sind mehrere Kapitel der sich durch das Netz explosionsartig ausbreitenden Pornographie und auch der Kinderpornographie gewidmet. Nicht nur dies hätte für mein Empfinden etwas abgekürzt werden können.

Dabei sind Köhlers Analysen immer wieder schlüssig und auf den Punkt gebracht.
Aber manchmal schießt er auch etwas über das Ziel hinaus, wenn er zum Beispiel Leibniz und dessen „Monadologie“ dämonisiert. Oder er wird ein bisserl‘ melodramatisch, wenn er davon schreibt, dass jeder, der in einen Shitstorm gerät, „lebendig verbrannt“ oder „gehäutet“ werde. Vielleicht gehört unser Autor aber auch einfach noch zu der Generation, die zuviel „Lederstrumpf“ gelesen hat ...
Hinzu kommt, dass es beim Lesen nicht immer leicht war, zwischen dem zu unterscheiden, was verifizierter Fakt ist oder nur Hypothese des Autors. Hin und wieder war es mir auch einfach zuviel Weltuntergangspredigt, anmutig ausgewalzt. Denn Stil hat er! Und findet am Ende unspektakulär weise und stimmige Worte. Denn mit Seneca und Meister Eckhart kann man nicht so falsch liegen.

Aber das Buch wirkt nach. Köhler sagt:

Die Cyberwelt ist zu unserem Lebensmittelpunkt geworden, der allein darüber entscheidet, ob für uns etwas wirklich existiert oder nicht.

Ist das so? Sind wir wirklich bereits „posthuman“ geworden? Oder auf dem sicheren Weg dorthin? Und ist es wirklich nur noch eine Frage der Zeit, dass wir im Würgegriff einer Künstlichen Intelligenz enden?

Dass die Machtübernahme durch das Netz bedrohlich ist, ja, das habe ich verstanden. Aber ich habe noch nicht den Beweis dafür gesehen, dass ich und wir nun automatisch zu Cybermenschen geworden sind. Bisher ist es nur eine philosophische These. Oder besser: eine ernstzunehmende Warnung.

Jesus sagte: „Und kauft die Zeit aus, denn es ist böse Zeit.“ Heißt das nicht sowas wie: schlagt sie mit ihren eigenen Waffen? Es wird mir Freude bereiten, nach Wegen zu suchen, genau das zu tun.