Rezension

Fraktale Splitter der Gegenwart

Die Hochstapler -

Die Hochstapler
von Tom Rachman

Bewertet mit 5 Sternen

"Und was für Romane schreiben Sie so?", fragt er. "Die der traurigen Sorte, in denen lange nichts passiert und dann sind sie zuende." "Ich könnte eine Figur in einem ihrer Bücher sein." "Oh, aber das sind Sie. Fällt Ihnen das jetzt erst auf?"

Dora Frenhofer, erfolglose Autorin, hat beschlossen, das Schreiben aufzugeben. Sie ist um die 70 Jahre alt und glaubt, bei sich erste kognitive Beeinträchtigungen festzustellen. Keinesfalls will sie sich im Alter in hilflose Abhängigkeit begeben, sondern selbstbestimmt sterben. Aber vorher soll es noch ein letztes Buch geben: Dieses. Unterbrochen von Tagebucheinträgen aus der Gegenwart der Corona-Pandemie schreibt Dora über Menschen, zu denen sie den Kontakt schon lange verloren hat. Notgedrungen sind ihre Geschichten Extrapolationen der Vergangenheit.

Alle Figuren in Doras Geschichten sind Wortschaffende oder haben mit ihnen zu tun. Alle halten ihre Arbeit für schlecht, irrelevant oder wertlos, auch die Zukunftsfähigkeit des Lesens an sich wird infrage gestellt. Wir erleben schmerzhafte Demütigungen Schreibender auf Lesungen ohne Zuhörer, Schreibworkshops ohne Teilnehmer, in feindseligen Interviews, durch gleichgültige Agenten und arrogante Lektoren. Dora und durch sie Rachman bezweifelt den Sinn der Literatur an sich.

Daneben verhandeln Doras Fiktionen die Auswirkungen unserer vernetzten Welt, Cancel Culture, die Einsamkeit in der Pandemie, selbstbestimmtes Leben und Sterben, Unrechtsregime mit ihren Folterknechten, die Misere der Lieferfahrer und Kurierboten, ein Leben mit Behinderung, persönliche Freiheit und Verantwortung, Schuld und Vergebung – und mehr. Der Roman ist unglaublich gehaltvoll, erstaunlicherweise ohne ein Gefühl der Überfrachtung auszulösen.

Mit jedem Kapitel mochte ich den Roman mehr. Verblüffende Sichtweisen, scharfsinnige Analysen, unterschiedliche Sounds, originäre Perspektiven – und eine permanente Irritation durch fiktionale Brüche, die Dora in ihre Geschichten einbaut, so dass sich Realitätsebenen verschieben, kippen, wegbrechen. In manchen Geschichten begegnen die Figuren den Figuren aus anderen Geschichten, was diese zu verifizieren scheint. Aber war das Gelesene „real“? Auch Doras Tagebuch wirft immer wieder die Frage auf, wieviel des Erzählten „tatsächlich“ geschehen ist – oder welche der auftretenden Personen es tatsächlich „gibt“. Wieweit ist die eigene Lebensgeschichte Fiktion? Die Grenzen zwischen fiktiver Realität und fiktiver Phantasie verwischen sich ständig – erst recht, wenn man sich klar macht, dass restlos alles, was man gerade liest, Fiktion ist. Dabei geht bei aller Irritation die erzählerische Klarheit nicht verloren, man ist immer orientiert, erkennt Elemente wieder, setzt Ereignisse in Bezug zueinander. Ein durch und durch künstliches Konstrukt, das sich verblüffend real liest.

Das liegt vor allem an der meisterhaften Figurenzeichnung. Obwohl wir es durchweg mit gebrochenen oder Antihelden zu tun haben, ist man schnell in Resonanz mit den Charakteren, hofft und leidet mit ihnen. Ein durchgängiges Thema ist die existenzielle Einsamkeit des Menschen, die nicht überwunden werden kann. Manche Kapitel sind so intensiv, dass sie kaum auszuhalten sind.  Kann Literatur irrelevant sein, wenn sie derart reale Gefühle erzeugt? Rachmans Roman bringt das Kunststück zustande, die Existenzberechtigung der Literatur gleichzeitig zu bezweifeln und zu beweisen.

Im Schlusskapitel finden sich alle vorigen Kapitel bruchstückhaft wieder. Sind wir jetzt auf der „realen“ realen Ebene angelangt? Kaum ist man zu diesem Schluss gekommen, zieht Rachman uns erneut den Boden unter den Füßen weg.

Ein großartiger Roman - fraktale Splitter unserer Gegenwart, die sich zu einem funkelnden Puzzle verbinden.