Rezension

Leben zwischen Täuschung und Selbsttäuschung

Die Hochstapler -

Die Hochstapler
von Tom Rachman

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Mit seinem Romandebüt „Die Unperfekten“ über die Welt des Journalismus gelang dem langjährig erfahrenen britischen Auslandskorrespondenten Tom Rachman (50) vor 15 Jahren auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller. Auch sein aktueller, im Juni beim dtv-Verlag veröffentlichter Roman „Die Hochstapler“ handelt vom Schreiben und schildert in einzelnen, voneinander völlig unabhängigen Episoden mit jeweils anderer Hauptfigur die Vielschichtigkeit des Lebens aus subjektiver Perspektive ihres jeweiligen Protagonisten. Ungewöhnlich an Rachmans raffiniert aufgebautem Roman ist auch, dass nicht er selbst als Autor uns diese Geschichten erzählt, sondern dies einer von ihm erdachten Schriftstellerin überlässt.

Die seit Jahren allein in ihrem Londoner Haus lebende holländische Schriftstellerin Dora Frenhofer (74), deren Romane längst Ladenhüter sind und deren letztes Manuskript vom Verlag abgelehnt wurde, denkt nun über ihr Ende nach: „Ich sollte dieses Leben bald zu Ende bringen, findest du nicht?“. Doch es gibt ein Problem: „Handle zu früh, und du bringst dich um einen lebenswerten Teil deines Lebens. Handle zu spät, und du handelst nie." In diesem Zwiespalt will sie doch noch einen letzten Roman schreiben. Woher aber soll sie ihre Anregungen bekommen, wenn sie während der Corona-Lockdowns im Haus isoliert ist? Ihr kommt die Idee, einen autobiografischen Rückblick zu verfassen. „Jedes zweite Kapitel aber wird sich einer anderen Figur widmen. Und somit stellt sich ein Problem. Leser wollen, dass der Text sich zu etwas Einheitlichem fügt, nicht zu vielerlei. Meine Figuren muss also irgendwas verbinden.“ So besinnt sie sich auf Personen, die im Laufe ihres eigenen Lebens eine Rolle gespielt haben.

Hier zeigt sie die zweite Raffinesse in Tom Rachmans Buch. Denn dieser Roman hat keine durchgängige Handlung. Jedes „zweite Kapitel“ ist eine völlig eigenständige Erzählung über das Leben einer jeweils anderen Hauptfigur. So erfahren wir in einer Episode von Doras verschollenem Bruder Theo, der sich in Indien unter anderem Namen eine Existenz aufgebaut hat, in einer anderen von ihrer Tochter Rebecca, die in Los Angeles Gags für Comedians schreibt. Auch zu ihr hat Dora seit unzähligen Jahren keinen Kontakt. Als bindungsunfähig und egoistisch hat sich Dora schon vor Jahrzehnten auch in Paris in ihrer Liaison mit dem erfolgreichen Gastro-Kritiker Alan erwiesen. Ihn lernen wir als inzwischen alten Mann kennen, den die Branche längst abgeschrieben hat und der seinen behinderten, damals von Dora verlassenen Sohn umsorgt.

Auch an Zufallsbegegnungen erinnert sich die Schriftstellerin: Amir (29), Sohn einer Französin und eines Syrers, der von London aus zur Beisetzung seines Vaters nach Syrien fährt, dort willkürlich in Haft genommen wird und im Gefängnis auf seinen bis dahin unbekannten Halbbruder Khaled trifft. Emotional besonders stark beeindruckend ist die Geschichte um Morgan Willumsen, die die Todesstrafe für die Mörderin ihrer zwei kleinen Kinder fordert, am Ende aber doch zur Verständigung bereit ist. Aus dem Füllhorn eigener Branchen-Erfahrungen scheint Tom Rachman in der recht sarkastischen Episode über den erfolglosen Schriftsteller Danny Levittan zu schöpfen, der auf einem Festival in Australien nicht einmal seine Bücher signieren darf, da der Verlag unverkaufte Exemplare mit Autogramm nicht zurücknimmt.

Tom Rachman zeigt in seinem neuen Roman anhand der einzelnen, für inhaltliche Abwechslung sorgenden Episoden, die alle durch Doras zwischengeschobene Tagebucheinträge lose verbunden sind und deren jeweilige Protagonisten schließlich im überraschenden Schlusskapitel noch einmal alle der Reihe nach auftreten, die menschlichen Schwächen seiner Charaktere und die Unsicherheiten, mit denen sie im Leben zu kämpfen haben. Wir Menschen scheitern allzu oft an zu hohen Erwartungen seitens der Gesellschaft oder an denen, die wir an uns selbst stellen. Wir leben in einer täglichen Balance zwischen Erfolg und Absturz, zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit, zwischen Täuschung anderer und Selbsttäuschung.

Auch wenn jede Episode für sich allein schon als in sich abgeschlossene Erzählung ihren eigenen Stellenwert hat, fasziniert der Roman insgesamt durch die eben dadurch geschaffene Vielschichtigkeit. Da kann es sogar passieren, dass man beim Lesen vergisst, dass nicht die erzählende Schriftstellerin Dora Frenhofer den Roman „Die Hochstapler“ geschrieben hat, ist sie doch nur eine weitere fiktive Romanfigur, sondern dass der wahre Autor dieses interessanten und lesenswerten Romans der britische Schriftsteller Tom Rachman ist.