Rezension

Ganz großes Kino

Middlesex - Jeffrey Eugenides

Middlesex
von Jeffrey Eugenides

Bewertet mit 5 Sternen

Warum sich für Geschichte interessieren? Um die Gegenwart zu verstehen oder sie zu meiden?

Berlin, 2001: Der einundvierzigjährige Cal Stephanides, ein Abkömmling griechischer Einwanderer, erzählt die Lebens- und Leidensgeschichte dreier Generationen, in deren Mittelpunkt die Transformation steht. Dies ist die Geschichte von Bruder und Schwester, die innerhalb der Kriegswirren und der daraus resultierten Flucht zu Mann und Frau werden, die Geschichte zweier Griechen, die zu Amerikaner werden, und schließlich die Geschichte der Enkelin, die zum Jungen, vom Kind zum Erwachsenen wird. Und noch vieles mehr.

Nie hatte ich die richtigen Worte, um mein Leben zu beschreiben, und nun, da ich in meine Geschichte eingetreten bin, brauche ich sie mehr denn je. Ich kann mich nicht mehr einfach zurücklehnen und das Ganze aus der Ferne betrachten. Von nun an ist alles, was ich Ihnen erzähle, von der subjektiven Erfahrung gefärbt, Teil der Ereignisse zu sein. Hier spaltet sich, teilt sich meine Geschichte, erfährt eine Meiose. Schon fühlt die Welt sich schwerer an, da ich ein Teil von ihr geworden bin.

Eugenides' 'Middlesex' verwebt in diesem sowohl skurrilen als auch berührenden Roman mehrere Genres auf wundersame Art und Weise: Familiengeschichte, Entwicklungsroman und Schelmenroman, bei denen sich im Hintergrund das Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts abspielt und den Leser direkt ins Geschehen hineinzieht: der griechisch-türkischer Krieg, Rassenkonflikte der USA, Weltwirtschaftskrise usw.

Trotz der korrigierenden Brillengläser war die Welt für meine Großmutter weiterhin unscharf. Desdemona begriff nicht, was das ganze Kämpfen sollte.

Zusätzlich dazu geht der Autor den Fragen nach dem Schicksal und der Identitätsfindung auf der Spur. Hierfür stellt er die neusten Erkenntnisse der Biogenetik der griechischen Mythologie gegenüber und verwebt somit indirekt eine naturwissenschaftliche Sichtweise mit einer fantastischen – ein (meiner Meinung nach) ungewöhnlicher und interessanter Schachzug. Eugenides katapultiert die mythologische Figur des Hermaphroditen in die moderne Psychologie und verleiht somit dem Extremen, Bizarren (mit einer großen Portion Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit) ein normales Gewand, indem er den ernsten Thematiken stille Momente und komische Situationen zuschreibt, dem konfliktreichen Stoff mit Gelassenheit entgegenkommt.

Da sich 'Middlesex' bereits vieler Rezensionen erfreuen durfte, möchte ich im Folgenden mein Hauptaugenmerk auf die originelle Erzählweise bzw. auf den raffinierten Schreibstil richten, da sich der Autor allerlei stilistischen Spielereien bedient, was für den einen zu überbordend sein könnte, mir jedoch gut gefiel.

Der Roman weist einen Ich-Erzähler (Erzählerin?) auf, verleiht diesem jedoch gleichzeitig auktoriale Fähigkeiten, indem Cals Erinnerungen bis zur seiner Existenz als Sperma zurückführen.

Ich hatte noch nicht das Alter, um zu erkennen, dass das Leben den Menschen nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit schickt, in die Kindheit und schließlich in die Zeit vor der Geburt, damit er sich mit den Toten austauschen kann.

Außerdem versetzt sich Cal bei Bedarf in den Kopf anderer Figuren. Somit experimentiert Eugenides geschickt mit Perspektivenwechsel, aber auch grundsätzlich mit Rück- und Vorblenden, Metaphern, Rhythmus, cineastischen Abläufen und sowohl postmodernen als auch altmodischen Elementen. Letzteres erinnert manchmal an den Tonfall der griechischen Tragödien aus der Antike, wobei Eugenides im nächsten Satz wieder überraschend in die Gegenwart zurückkehrt:

Singe jetzt, o Muse, die Geschichte der rezessiven Mutation auf meinem Chromosom fünf! […] Und singe, wie die Vorsehung in Gestalt eines Massakers das Gen weiterfliegen ließ, wie es einem Samen gleich über den Atlantik nach Amerika wehte, wo es durch sauren Regen trieb, bis es zur Erde fiel, auf den fruchtbaren Bodes des mittelwestlichen Schoßes meiner Mutter. Tut mir leid, wenn ich manchmal ein wenig homerisch werde. Aber auch das steckt mir in den Genen.

Trotz der gottähnlichen Züge hinterlässt die Erzählweise dem Leser geschickt weiße Lücken, wie beispielsweise:

Der gellende Schrei, den meine Großmutter ausstieß, als sie von der Katastrophe erfuhr, lässt sich gedruckt nicht angemessen wiedergeben.

Nebst der flüssigen Lesbarkeit schafft der Autor treffsichere Vergleiche und stimmungsvolle Bilder, die vor allem die realistische Authentizität der Ich-Perspektive unterstützen und Nähe zu den Figuren schaffen:

Und da er kein Wort über seinen Kummer verlor, begann sein Bart all das, was Milton sich nicht zu sagen gestattete, wortlos zu erzählen, die Knoten und Wirbel verwiesen auf seine zunehmend verschlungenen Gedanken. Der strenge Geruch setzte die Stressketone frei. Im Verlauf des Sommers wurde der Bart struppig, ungemäht, und es war klar, dass Milton über die Pingree Street nachgrübelte; wie die Pingree Street verkam auch er.

Eugenides' Schreibstil gänzlich zu entschlüsseln, erscheint mir ob der Vielschichtigkeit beinahe unmöglich. Wer sich auf eine Exkursion der sprachlichen und erzählerischen Raffinesse begeben möchte, dem kann ich diesen Roman wärmstens empfehlen. Demjenigen, der der Erzählstimme, die hier entscheidend ist, und nicht dem stilistischen Drumherum folgen möchte, um der uralten Frage nachzugehen, ob nun die Erziehung oder die Vererbung stärker ist, und sich darauf einlassen kann, dass der Leser bestenfalls selbst entscheiden muss, ob der gewählte Tonfall nun weiblich oder männlich ist, dem möchte ich diesen Roman ebenfalls ans Herz legen. Für mich war 'Middlesex' eine anspruchsvolle Unterhaltungslektüre.

Abschließend möchte ich an Lob an Eike Schönfeld für die Übersetzung, die u.a. aufgrund der langen Satzperioden gewiss nicht leicht war, aussprechen.

Doch was die Menschen vergessen, bewahren die Zellen. Der Körper, dieser Elefant...