Rezension

genialer Schreibstil, unheimlich, mal was anderes

Das schwarze Buch der Gier - Beile Ratut

Das schwarze Buch der Gier
von Beile Ratut

Bewertet mit 5 Sternen

Wie erkläre ich einem kleinen Mädchen das Verschwinden ihres Bruders? Wenn weder Mutter noch Vater, die Tante oder Polizisten dem Mädchen es sagen, erklären, noch nicht einmal den Versuch unternehmen es wahrzunehmen, was passiert dann mit diesem Kind? Was fühlt es, denkt es, wie handelt es? Beile Ratut gibt diesem Kind in ihrem Erstlingsroman „Das schwarze Buch der Gier“ eine Stimme, um den Erwachsenen, den Älteren begreiflich zu machen, da passiert etwas, was nicht wieder gut zu machen ist, wenn diese Fragen der Betroffenen nicht nachgegangen wird. Aber auch die Familie, die keine oder kaum Hilfe annimmt, nicht reden, ihrer Trauer und ihren Ängsten keinen Raum geben will, zerbricht in dieser scheinbaren Idylle. Beile Ratuts Worte haben eine Wucht, die einen fassungslos zurücklässt, obwohl doch offensichtlich ist, was tagtäglich an Gewalttaten Kindern gegenüber angetan werden.
In dem Roman wächst Alba, das kleine Mädchen, in einer Umgebung auf, in der Fragen nicht erlaubt sind, zumindest gibt es keine Antworten. Was ist mit ihrem Bruder geschehen? Warum hat es keine Freunde, keine gemeinsamen Nachmittage mit den Klassenkameradinnen? Alba wird zu einem stillen, gehorsamen Kind, das dennoch innerlich zerrissen ist zwischen ihren Fragen und Ängsten. Und bleibt dabei allein. Stille, sich unsichtbar machen, bloß nicht auffallen, das ist eine der wenigen Möglichkeiten, die Alba sieht, damit das Böse sie nicht auch noch findet. Und in diesem Klima wird sie älter. Als die Mutter auch nach mehrfachem, sogar gebrüllten Nachfragen keine Antworten geben kann, verlässt sie zwar den Ort, aber es ändert sich nichts. Unfähig, irgendwelche Bindungen einzugehen, oder enge Freundschaften zu schließen, lebt sie lieber in Büchern und Zeitungsartikeln, immer auch und immer wieder auf der Suche nach ihrem Bruder. Verfolgt von Stimmen, unerklärlichen Vorfällen, missverstanden von Männern, die in ihr etwas sehen, was sie nicht begreift, versucht sie ihr Leben in den Griff zu bekommen.
Als sie durch einen Anrufer mit Mordphantasien in Berührung kommt, kann sie nicht anders, als sich mit Literatur über Grausamkeiten zu beschäftigen. Ist ihr Bruder einem Kinderschänder begegnet? Was hat er ihm angetan? Die Autorin findet deutliche Worte für die Praktiken, für die vermeintlichen Geschehnisse. Denn wirklich wissen, nein, Alba weiß im Grunde nichts. Wird sie durch die Beschäftigung mit Gewaltphantasien selbst zur Täterin?
Gier. Nichts weiter als das Streben nach Macht. Einer Macht, die immer über vermeintlich Schwächere herrschen will. Mit brutalen Mechanismen nicht bedenkend, dass der Gierige nicht nur mit Gewalt einem anderen Menschen Schaden zufügt, sondern auch seinen Angehörigen. Dass diese Gewalt in das Leben eines kleinen Mädchens eingreift und bis ins hohe Alter wirkt.
Für mich ein außerordentlicher Einstand einer Autorin, von der wir hoffentlich noch sehr viel zu lesen bekommen werden.