Rezension

Gesellschaftsportrait und Entwicklungsgeschichte

Die Tage des Wals -

Die Tage des Wals
von Elizabeth O'Connor

Bewertet mit 2 Sternen

 

 

Die junge englische Autorin Elizabeth O‘ Connor hat bisher Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht. Ihr erster Roman „ Die Tage des Wals“ wurde als bestes Debut ausgezeichnet.

Schauplatz ist eine fiktive kleine Insel vor der walisischen Küste. Hier lebt die achtzehnjährige Manod mit ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester und ihrem Vater, einem Hummerfischer. Die Mutter ist seit vielen Jahren tot. Mittlerweile wohnen  neben dem Pfarrer und dem polnischen Leuchtturmwärter nur noch zwölf Familien auf der Insel. Viele Häuser sind verwaist, zum Teil weil einige  junge Männer im letzten Krieg umgekommen sind, aber auch weil viele aufs Festland gezogen sind, in der Hoffnung auf Arbeit und ein leichteres Leben.

Manod erzählt von den letzten vier Monaten des Jahres 1938, die von zwei einschneidenden Ereignissen geprägt waren. Im September strandet ein Wal am Ufer, für manche Inselbewohner ein schlechtes Omen.

Einen Monat später kommen zwei Ethnografen aus Oxford hier an, Edward und Joan. Manod wird bald zur Assistentin der beiden, übersetzt walisische Texte und führt sie herum. 

Für die junge Frau sind die zwei Forscher eine Brücke zu der Welt da draußen und eine Chance, von hier wegzukommen. Denn sie träumt von einem anderen Leben, als die Insel bieten kann. Dem  traditionellen  Los aller Frauen hier möchte sie entkommen. „ Ich hatte Mädchen erlebt, die mit sechzehn heirateten, mit zwanzig mehrere Kinder hatten, mit fünfundzwanzig vom Meer verwitwet wurden, ausgelaugt und verloren.“ Manod ist klug und möchte Lehrerin werden. Aber bisher hält  sie die Verantwortung für ihre Schwester noch hier.

Doch Edward und Joan nutzen Manod  für ihre Zwecke aus. Am Ende bleibt ihr nur das Vertrauen in die eigene Stärke.

Was beim Lesen sofort auffällt und für den Roman einnimmt, ist die Sprache. Die Autorin findet sehr poetische Bilder für die Natur und  die Landschaft , wie z.B. „ Nach dem Sommer kreist die Kälte, stürzt dann herab wie ein Stein.“  Aber auch für die seelische Verfassung der Ich- Erzählerin: „ All meine Entscheidungen kamen mir vor, als versuche ich, einen Fisch zu fangen, den es nicht gab, bis ich ihn fing.“

Dabei beschreibt sie gleichzeitig äußerst realistisch  den Arbeitsalltag der Bewohner, die hauptsächlich vom Meer leben. 

Mit mal sehr kurzen, dann wieder längeren Kapiteln hat der Roman eine eigenwillige Erzählstruktur. Dazwischen gesetzt sind Berichte der Ethnografen sowie Transkriptionen von  Volksmärchen, die man sich hier erzählt, und altem  Aberglauben. 

Sprache und Erzählstil passen sehr gut zum Schauplatz, spröde, karg und gleichzeitig sehr schön. Auch die Kommunikation zwischen den Menschen ist kurz und knapp und aufs Wesentliche reduziert. 

Elizabeth O‘ Connor beschreibt eine Gesellschaft, die zum Untergang verurteilt ist. Es sind nur noch wenige, die hier leben wie Generationen vor ihnen. Sie kennen noch die alten Mythen, sprechen ihre eigene Sprache. Aber bald werden die letzten von ihnen auch fortgegangen sein.

Dabei arbeitet sie  sehr gut den Kontrast heraus, der sich aus dem Zusammentreffen zwischen den Engländern und den Inselbewohnern ergibt. Edward und Joan kommen mit dem Wunsch hierher, das archaische Leben zu dokumentieren, doch sie unterliegen ihren eigenen Vorstellungen.  Während Joan das Meer romantisch verklärt, weiß Manod, wie gnadenlos und unerbittlich die See sein kann. In ihrer Forschungsarbeit geht es ihnen nicht um Authentizität, sondern um Wirkung und Effekte. 

In einer vorangestellten Anmerkung zum Text erwähnt die Autorin einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1934, „ Die Männer von Aran“. Dem Regisseur Robert J. Flaherty wurden sachliche Fehler und inszenierte Szenen vorgeworfen. Möglicherweise ist dieser Roman eine Antwort auf  diesen Film. Die Literatur vermag einen authentischen Blick auf dieses vergangene Leben  zu werfen.

Gleichzeitig haben wir es hier mit einer klassischen Entwicklungsgeschichte zu tun. Der Leser folgt der jungen Protagonistin in ihrem Bestreben, ihren eigenen Weg zu finden, sich zu emanzipieren.

Der historische Hintergrund wird nur ganz dezent in das Geschehen eingebaut. Man hört im Radio vom Münchner Abkommen, ein Flugblatt kursiert und ein Boot mit jüdischen Kindern auf dem Weg nach Irland wird gesichtet. 

Die Autorin lässt manches in der Schwebe, vieles wird nur angedeutet und der Phantasie des Lesers überlassen, das Ende bleibt offen.

 

„ Die Tage des Wals“ ist ein ruhiger, ein melancholischer und atmosphärischer Roman, der  langsam gelesen werden will.