Rezension

Gier nach Ruhm, falsche Vorbilder und die Frage: Haben Menschen überhaupt eine gute Seite?

Das Volk der Bäume - Hanya Yanagihara

Das Volk der Bäume
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 4 Sternen

"Es gab da irgendeine Verbindung. Ich wusste es, ich wusste es genau. aber was für eine?” S.210

Eine Warnung vorab: Das Buch greift Themen wie körperliche Gewalt und Belästigung auf und will den Leser an die Grenzen seiner moralischen Vorstellungen bringen, provoziert demnach auch zu bestimmten Gefühlen und Reaktionen.
Für mich war das Buch in Abschnitte unterteilt, die sich zwar irgendwie gut miteinander verknüpft haben, welche aber inhaltlich andere Schwerpunkte legen und so das Gefühl erzeugen, dass man auch hätte zwei verschiedene Bücher lesen können. Die im Vordergrund stehende Expedition wird zum Beispiel im letzten Teil kaum noch aufgegriffen und die Tests bezüglich der Schildkröte werden nach dem nicht weiter ausbaubaren Ergebnisstand beinahe fallengelassen. Einerseits signalisiert das gekonnt die menschliche Suche nach etwas Neuem und der kurzen Begeisterung für neue Entdeckungen, aber diese doch sehr strikte Trennung der beiden Abschnitte war mir zu abrupt.
Ebenso muss dem Leser (und das wird es auch) klar sein, dass die Forschung und die damit zusammenhängenden "Überraschungen" bereits zu Beginn des Buches komplett offen gelegt werden. Daher zielt die Geschichte darauf ab, den Leser mit unangenehmen Fragen und Verhaltensweisen zu konfrontieren und ihn nicht nur mit einer Geschichte zu bespaßen, die es ansatzweise tatsächlich so passiert ist. Zu den genauen Details und den Verbindungen zu real existierenden Menschen wird aber auch in der Einleitung passend eingegangen.

"O Gott dachte ich, kann sich denn nichts in diesem Dschungel verhalten, wie es soll? Müssen sich Früchte bewegen und Bäume atmen und Süßwasserflüsse nach Ozean schmecken? Warum muss alles so überdeutlich darauf hinweisen, dass Verzauberung hier Realität ist?” S. 143

Obwohl ich anfangs unsicher war, ob mir die Geschichte und auch die Art und Weise der Erzählung gefallen könnten, eben auch durch den anfangs geschilderten Ausgang, konnte ich mich von dem Buch kaum losreißen.
Das lag sicherlich daran, dass mir der Erzählstil sehr zugesagt und es mir auch scheint, dass die Übersetzung hier vieles richtig gemacht hat. Der Text liegt als schriftlich verfasste Erzählung des Protagonisten Dr. Norton Perina vor, der durch Fußnoten eines befreundeten Wissenschaftlers ergänzt wurde.
Ich mochte daran, dass man durchaus viel zwischen den Zeilen lesen muss, vieles aber auch gleichzeitig auf der Hand liegt. Bestimmte Ansichten von Menschen werden auf bestimmte Weise kommentiert und gewertet, sodass man auch ziemlich schnell weiß, mit welchem Protagonisten man es zu tun hat. Gut hierbei war der kontrastierende Auftritt einer Forscherin namens "Esme". An ihrer Beschreibung und ihren Äußerungen, ebenso wie den daraus entstehenden Reaktionen seitens Perinas erkennt man wunderbar, wer sich verabscheut und es lassen sich gute Schlüsse ziehen, wie die Psyche von Perina aussieht.
Und Perina hat es tatsächlich in sich, denn beinahe die gesamte Geschichte über erscheint er dem Leser als überaus protzig, selbstgefällig und schlichtweg unsympathisch. Hanya Yanagihara spielt genau damit, denn so sehr man sich von ihm wegdrehen möchte, bringt er mit gewissen Äußerungen zu Ethik und Moral auch Steine ins Rollen, die man sich stets selbst eingestehen müsste.
Es wird der Hochmut thematisiert, ebenso wie die Gier der westlichen (weißen) Bevölkerung nach Macht, Wissen und Überlegenheit. Wie weit gehen wir, um uns Völker und deren Wissen, deren Besitz, deren Kostbarkeiten anzueignen? Es ist ein Buch, das sich schmerzlich liest. Nicht nur, weil es uns zeigt, wie unachtsam wir mit Kulturen und der Wissenschaft umgehen, sondern auch mit Lebewesen, Versuchsobjekten, aber auch Menschen.
Auch wenn der Roman vordergründig auf die wissenschaftlichen Aspekte abzielt und sich viel mit den Beschreibungen des Waldes und den dort lebenden Menschen beschäftigt, nimmt man auch deutlich das Leben und die Probleme des Norton Perina wahr. Es entspinnt sich eine weitere Handlung, die eine weitere dunkle Seele und Denkweise offenbart.

"Aber meine Zeit auf Ivu´ivu lehrte mich, dass jede Form von Ethik und Moral kulturabhängig ist. Und an Esmes Reaktion sah ich, dass dieser kultureller Relativismus ein zwar leicht zu begreifendes, für viele aber auch leicht zu vergessendes Konzept ist." S.226

 

INSGESAMT: Gewisse Passagen liest man aus dem Roman mit voller Abscheu und man sträubt sich dagegen, das Buch gut zu finden, weil es so verwerflich scheint. Dennoch zeigt Hanya Yanagihara somit auch auf, wie wichtig es ist, dass man vor einigen Dingen nicht die Augen verschließt und alles in den Abgrund reißt. Wissenschaftliche Entdeckungen wie auch kulturelle Ansichtsweisen werden so mit dem Leben eines Forschers verwoben, dass man sich mit auf diese Expedition begibt, die einem viel abverlangt.