Rezension

Die Perspektive des Täters

Das Volk der Bäume - Hanya Yanagihara

Das Volk der Bäume
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 5 Sternen

Genau wie viele andere deutsche Leser habe ich zuerst “Ein wenig Leben”, dann das später erschienene Debut der Autorin gelesen. Beide behandeln das Thema des sexuellen Missbrauchs, aber auf ganz unterschiedliche Weise. „Ein wenig Leben“ erzählt von dem lebenslangen Leiden des Opfers. „Das Volk der Bäume“ wiederum gibt die Sicht des Täters wieder, verpackt als Memoiren Norton Perinas, die dieser während seiner Zeit im Gefängnis schreibt. Perina konzentriert sich dabei zunächst auf seine außergewöhnliche wissenschaftliche Karriere: Gemeinsam mit dem Anthropologen Paul Tallent macht er sich zu einer mikronesischen Insel auf. Dort entdecken sie ein Volk, dessen Mitglieder hunderte von Jahren alt werden, dafür aber zunehmend geistig verfallen. Norton findet schließlich heraus, dass dies dem Verzehr einer bestimmten Schildkrötenart geschuldet ist. Wenig überraschend führt dies schnell nicht nur zur Ausrottung dieser Schildkröten, sondern auch zur Zerstörung des Lebensraums und der Kultur der Inseleinwohner. Norton entdeckt auf der Insel außerdem seine pädophilen Neigungen, und adoptiert später 43 u’ivuanische Kinder. Eines davon, Victor, wird ihn schließlich wegen Vergewaltigung anzeigen und hinter Gitter bringen.

Zunächst einmal fand ich die Schilderungen der Insel und der dort gemachten Entdeckungen wirklich fesselnd und grandios geschrieben. Man hat das Gefühl, den Dschungel fast sehen, riechen, spüren zu können. Dabei gerät das eigentliche Thema, der Kindesmissbrauch, zunächst immer weiter in den Hintergrund. Norton selbst sieht sein Leben eben so, dass seine wissenschaftliche Leistung, sein Nobelpreis etc. alles andere aufwiegt. Trotzdem habe ich dieses Buch nicht als eine Rechtfertigung für sexuelle Gewalt oder einen ethischen Relativismus  wahrgenommen, wie anscheinend einige andere Rezensenten. Ganz im Gegenteil! Von Beginn des Buches wird eigentlich klar, wie absolut egozentrisch und gefühlskalt Norton Perina ist. Ihm geht es immer nur um den eigenen Vorteil; bei anderen Menschen interessiert ihn ausschließlich, wie diese ihm nutzen können, und sei es nur durch ihre körperliche Schönheit. Schon wie er über seine Kindheit und Mutter schreibt, zeigt deutliche psychopathische Züge.

Auch seine wissenschaftliche Laufbahn ist nur auf Ruhmsucht, keinesfalls auf Leidenschaft und Wissensdurst begründet. Seine Entdeckung der Schildkröten fällt ihm quasi in den Schoß; darüber hinaus leistet er aber nichts, wie etwa, den genauen Mechanismus ihrer Wirkung zu verstehen oder die Nebenwirkungen abzumildern, daraus irgendeinen Nutzen für die Menschheit zu substrahieren. (Das ist ein wesentlicher Unterschied zu dem wahren Fall von Gajdusek, auf dem diese Geschichte beruht und welcher die Prionen entdeckt hat; was aber letztlich moralisch auch keinen Unterschied macht.)

Perina sieht sich natürlich selbst nicht als den Bösen; Victor hat ihn provoziert und war ohnehin schwierig, andere tun noch viel Schlimmeres, und überhaupt, er hat einen Nobelpreis. Yanagihara entwirft hier ein Täterportrait, das in seiner Binnenlogik absolut schlüssig ist – und gleichzeitig zutiefst abstoßend. Damit entlarvt sie meines Erachtens das Verstecken hinter kulturellem Relativismus und wissenschaftlicher Lebensleistung als schlechte Ausreden.

Kommentare

alasca kommentierte am 31. Dezember 2023 um 14:13

Großartige Rezension! Ich habe die Lektüre nicht ausgehalten und auf S. 75 abgebrochen.