Rezension

Großstadtgören

Wir, im Fenster - Lene Albrecht

Wir, im Fenster
von Lene Albrecht

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die innige und zugleich trotzige Haltung zweier Mädchen in der U-Bahn holen Linns Erinnerung herauf an ihre Freundschaft mit Laila. Heute blickt Linn aus der Hochbahn auf den neu angelegten Park und erinnert sich, wie Anlieger gegen den Bau der Bahnlinie protestiert hatten. Das Laubengelände war - vor dem Anlegen des Parks - das Revier der Mädchen. Erst Linns westfälischer Mann  weckte die Erinnerung an ihre Kindheit, als er genau wissen wollte, wo sie als Kinder Indianer gespielt hatten. Linns Eltern lebten in genau den Verhältnissen, in denen Eltern ihr Kind in einem anderen Stadtteil meldeten, damit es nicht mit Kindern wie Laila in einer Klasse lernen musste. Linns Erinnerungen gehen zurück zu Lailas Mutter, die Motorrad fuhr und ein Brautmodengeschäft führte. Der Vater lebte längst mit einer anderen, jüngeren Frau. Als Lailas Großmutter nicht wieder aus der Türkei zurückkehrt, zieht Laila zu Linns Familie. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie wie Linns Schwester aufgenommen wurde und die Wege der beiden Frauen sich später trennten. Nach einem letzten Kuss verschwand damals Laila und Linn versucht erst 10 Jahre später die Freundin zu finden. Unsere Vorstellung, was mit Laila in der Heimat ihrer Großeltern geschehen sein kann, übersteigt vermutlich die Realität. Ihre sexuelle Entwicklung erlebten die Mädchen gleichzeitig. Sie schliefen immer gemeinsam in einem Bett und machten Pläne von einem gemeinsamen Haus in der Türkei. In ihrem Kiez lernen sie früh von Gleichaltrigen, was Prostitution ist – und als Leser ahnt man die damalige Überforderung der Großmutter  mit der Großstadtgöre. Heute fühlt Linn sich in Lailas Hand, weil sie über die Freundin spricht.

In Lene Albrechts Roman einer Mädchenfreundschaft zwischen Kindheit und Pubertät geht es um Mädchenkram, das Zerbrechen einer Freundschaft, aber auch um den Kontrast zwischen dem Anschein  bürgerlicher Sorglosigkeit in  Linns Familie und  der zerbrechenden Welt Lailas. Linns Erinnerungen entblättern eine vergangene Idylle aus der Zeit kurz nach der Wende. Heute erkennt sie, was den Kindern verschwiegen wurde, was sie als 13-Jährige vielleicht ahnten und gern verdrängten. Der Roman vermittelt Emotionen, als würde man in den Ort seiner Kindheit zurückkommen - und schlagartig wären die Gerüche und Geräusche jener Zeit wieder da. Albrechts Roman zeigt schonungslos die trostlosen Seiten einer Großstadt-Kindheit und ist sexuell explizit. Das tut der gelungenen Darstellung der beiden Großstadtgören jedoch keinen Abbruch.