Rezension

Gute Ansätze & wichtiges Thema, aber ich habe viel mehr erwartet!

My Body -

My Body
von Emily Ratajkowski

~ “My Body” ist ein mutiges Buch, in dem Emily Ratajkowski wichtige Themen anspricht und Missstände in der Unterhaltungsbranche kritisiert. Trotz guter Ansätze, habe ich mir insgesamt doch etwas anderes (mehr feministischen Inhalt, weniger Biografie) und vor allem in vielen Bereichen MEHR erwartet (mehr Systemkritik, klarere Worte, mehr Reflexion). Einen guten Einblick in die Modelindustrie und ein System, das immer noch (Macht-)Missbrauch fördert und Täter schützt, bietet dieses Buch aber allemal! Nach der Lektüre werdet ihr nicht nur Emily Ratajkowski und das Musikvideo zu „Blurred Lines“, sondern auch generell das Showbusiness sicher mit anderen Augen sehen… ~

Inhalt

Die meisten von uns kennen sie, ohne je ihren Namen erfahren zu haben: Emily Ratajkowski. Als schönes Model im umstrittenen Musikvideo zu „Blurred Lines“ wurde sie bekannt, jetzt kommt ihre Abrechnung mit der Unterhaltungsindustrie. In ihrer Essaysammlung geht es um die Objektifizierung von Frauen, um das ambivalente Verhältnis zum eigenen Körper, um Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt.
 
Übersicht

Einzelband oder Reihe: Essaysammlung, Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählerin, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: lang
Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Sexismus, sexualisierte Gewalt (auch Vergewaltigung), Machtmissbrauch
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schla+++

Warum dieses Buch?
 
Der Klappentext verspricht ein mutiges feministisches Buch, das die Schattenseiten der Unterhaltungsbranche beleuchtet und Missstände kritisiert. In einer Zeit, in der (leider!) immer wieder neue Missbrauchsvorwürfe gegen mächtige Stars auftauchen, konnte ich mir diese Essaysammlung natürlich nicht entgehen lassen!

Meine Meinung

Einfach, nüchtern, distanziert (Schreibstil: 3 Lilien)

Meine Anforderungen an die Sprache eines Sachbuches oder einer Essaysammlung sind nicht hoch. Ich erwarte hier keine wunderschönen Formulierungen oder kreativen Metaphern, weil der Inhalt im Vordergrund steht. Trotzdem hat mich der Schreibstil leider enttäuscht. Er lässt sich zwar ganz angenehm und flüssig lesen, aber mir war er zu einfach, zu nüchtern, zu distanziert. Deshalb war es auch sehr schwer für mich, eine Verbindung zur Autorin aufzubauen und mich mit ihr zu identifizieren.

„Ich bin über die Scham und Angst hinaus- und in die Wut hineingewachsen.“ Seite 220

Gute Ansätze, aber viel mehr erwartet (Inhalt, Themen & Botschaft: 3 Lilien)

Als überzeugte und (in dem Bereich) schon recht belesene Feministin waren meine Erwartungen natürlich hoch. Ich erwartete zwar kein feministisches Manifest, aber doch eine schonungslose Abrechnung mit der Unterhaltungsindustrie, eine deutlich erkennbare feministische Haltung und eine klare und scharfe Kritik am System. Zu meiner Überraschung stellte sich „My Body“ dann allerdings mehr als lose strukturierte Biografie mit vielen Zeitsprüngen und vereinzelten feministischen Passagen heraus. Da hatte ich mir etwas anderes und vor allem deutlich mehr erhofft!

Doch nun zuerst zu den Stärken des Buches. In meinen Augen ist Emily Ratajowksi eine mutige Frau, weil sie es wagt, den Mund aufzumachen und Missstände in der Unterhaltungsindustrie anzusprechen. Im ihren Essays geht es um den „Male Gaze“ (den männlichen, sexualisierenden, objektifizierenden Blick auf Frauenkörper), um das ambivalente Verhältnis zum eigenen Körper, um sexualisierte Gewalt bis hin zur Vergewaltigung und um ein System, das Täter schützt und Machtmissbrauch erst möglich macht. Es beeindruckt mich, dass die Autorin einzelne Täter sogar namentlich nennt, wie zum Beispiel Robin Thicke (Sänger von „Blurred Lines“) und den Fotografen Jonathan Leder. Dass ihre Enthüllungen nicht höhere Wellen geschlagen haben, wundert mich! Wo bleibt der Aufschrei, frage ich mich? Insgesamt ist das Buch, das einige sehr starke Kapitel und Passagen enthält, oft nicht leicht zu verdauen. (Warum der Verlag hier auf eine Triggerwarnung verzichtet hat, ist für mich nicht nachvollziehbar!) Stellenweise hatte ich jedenfalls eine unglaubliche Wut im Bauch und mir wurde übel, als ich las, was sich mächtige Männer teilweise erlauben können und wie leicht sie ihre Macht missbrauchen können – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Obwohl mich das Buch also streckenweise durchaus überzeugen konnte, möchte ich auch ein paar Kritikpunkte ansprechen. Erstens hätte mir gewünscht, mehr feministisch relevanten Inhalt vorzufinden, weniger Alltagsbeschreibungen, weniger Belanglosigkeiten. Vor allem im Mittelteil kam ich daher nur schleppend voran und habe mehrmals mit dem Gedanken gespielt, das Buch abzubrechen. Zweitens ging mir Emily Ratajkowskis Kritik oft nicht weit genug, war zu oberflächlich, zu wenig reflektiert, fokussierte sich zu sehr auf einzelne Personen als auf das allen Taten zugrunde liegende toxische System. Vergewaltigungen werden teilweise nicht als das benannt, was sie sind und obwohl die Autorin den Male Gaze, die Objektifizierung und die Sexualisierung von Frauen, immer wieder kritisiert, ist ihr Instagram-Account voller Fotos, die genau diese Perspektive bedienen. Aus diesen Gründen wirkt es für mich, als wäre die Autorin noch am Beginn ihrer feministischen Reise und hätte noch keine wirklichen Konsequenzen aus ihren Reflexionen gezogen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte dieses Buch ein paar Jahre später geschrieben.

Fest steht, dass man nach der Lektüre dieses Buches viele Dinge mit anderen Augen sehen wird: Emily Ratajkowski (die bis jetzt für viele ein namenloses Model war), das Musikvideo zu „Blurred Lines“, Robin Thicke, Fotografen generell, die Modelbranche, mächtige Männer im Showbusiness und neue Missbrauchsvorwürfe, die zukünftig auftauchen werden. Nostalgische Interviews wie zuletzt das von Designer Wolfgang Joop, in dem er die in der Vergangenheit noch schlimmeren Zustände im Modelbusiness beschrieb, in dem er die damalige Welt als „wunderbar frivol und frigide“ bezeichnete und gut gelaunt und ohne einen Funken Mitgefühl erzählte, dass damals Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt an der Tagesordnung waren und dass sogar reichen Männern die Schlüssel zu den Hotelzimmern aufstrebende Models gegeben wurden, lösen nach dieser Essaysammlung nur noch mehr Unverständnis, Ekel und Wut aus. Trotzdem - und das darf man nicht vergessen - tut sich auch etwas in der Branche und die Entwicklung geht in die richtige Richtung. Immer mehr Frauen arbeiten als Regisseurinnen und Produzentinnen, immer mehr sind also in Führungspositionen tätig und können eine sichere Umgebung für die Menschen am Set schaffen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass es seit der MeToo-Bewegung mehr Bewusstsein für sexualisierte Gewalt gibt,  dass sie auch seltener totgeschwiegen wird und dass Täter immer häufiger Konsequenzen zu spüren bekommen.

Einen wichtigen Punkt möchte ich an dieser Stelle unbedingt noch ansprechen. Bei den Diskussionen und Rezensionen zum Buch bin ich leider immer wieder auf Victim Blaming (= Opfer-Täter-Umkehr) gestoßen, was ich sehr traurig finde. Anstatt den Fokus auf den Täter zu richten und uns zu fragen, wie ER die Situation verhindern hätte können (z. B. Robin Thicke, indem er weniger trinkt, wenn er sich ansonsten nicht unter Kontrolle hat), wird leider immer noch zu häufig versucht, der Frau / dem Opfer eine Teilschuld oder gar die ganze Verantwortung zuzuschieben. Die Argumentation startet bei sexueller Belästigung (hätte sie mal weniger getrunken und nicht nackt posiert, dann wäre das nicht passiert!) und endet bei Vergewaltigung (hätte sie mal nicht so ein kurzes Kleid getragen, wäre sie nicht so betrunken gewesen, dann wäre das nicht passiert!) und ist ABSOLUT toxisch. Was wir dringend brauchen, ist weibliche Solidarität und keine Verurteilungen und verinnerlichten Frauenhass – denn nichts anderes ist Victim Blaming.

Diese Argumentation erweckt zudem leider den Eindruck, dass man als Frau steuern könnte, was einem passiert, indem man weniger Alkohol trinkt, misstrauischer ist, seinen Körper mehr bedeckt. Dabei ist es (leider!) eine Tatsache, dass einem als Frau immer sexualisierte Gewalt widerfahren kann, egal wie viel man getrunken hat, egal was man anhatte, egal wie man sich verhalten hat. (Die meisten Vergewaltigungen passieren auch nicht durch fremde Männer auf der Straße, sondern durch Freunde, Familienmitglieder und Bekannte. Das ist eine traurige Tatsache, die vielen Leuten nicht bewusst ist.) Die einzige Person, die für eine solche Situation die Verantwortung trägt und sie verhindern hätte können und MÜSSEN, ist immer der Täter. Und NUR er! Mein Filmtipp zum Thema sexualisierte Gewalt und Victim Blaming: "Promising Young Woman" von der Regisseurin Emerald Fennel. Der Film ist großartig - gleichzeitig fesselnd, lustig und sehr beklemmend - und lässt garantiert niemanden kalt. Manche von euch werden danach vielleicht anders denken...

„Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich Menschen in Machtpositionen misstraute, die mir […] das Gefühl gegeben hatten, mein Körper gehöre nicht mir.“ Seite 118

Wichtiges Thema (Feminismus: 4 Lilien)

In ihrer Essaysammlung spricht Emily Ratajkowski auf mutige Weise ein sehr wichtiges Thema an, dafür gibt es von mir ein großes Lob! Weil mir die feministische Kritik jedoch oft nicht weit genug geht und sich auch vereinzelt problematische Aussagen im Buch finden (wie zum Beispiel, die gefährliche Behauptung, alle Frauen würden ihre Sexualität als „Sicherheit“ einsetzen), ziehe ich hier einen Punkt ab.

„Ich hatte mir angewöhnt, Erfahrungen zu verdrängen, die schmerzhaft waren oder im Widerspruch zu meinen Überzeugungen standen.“ Seite 16

Mein Fazit

“My Body” ist ein mutiges Buch, in dem Emily Ratajkowski wichtige Themen anspricht und Missstände in der Unterhaltungsbranche kritisiert. Trotz guter Ansätze, habe ich mir insgesamt doch etwas anderes (mehr feministischen Inhalt, weniger Biografie) und vor allem in vielen Bereichen MEHR erwartet (mehr Systemkritik, klarere Worte, mehr Reflexion). Einen guten Einblick in die Modelindustrie und ein System, das immer noch (Macht-)Missbrauch fördert und Täter schützt, bietet dieses Buch aber allemal! Nach der Lektüre werdet ihr nicht nur Emily Ratajkowski und das Musikvideo zu „Blurred Lines“, sondern auch generell das Showbusiness sicher mit anderen Augen sehen…
 
Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Schreibstil: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 4 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4 Lilien
Einzigartigkeit / Chance, dass ich das Buch nie vergessen werde: niedrig

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 Lilien!