Rezension

Historisch informatib, lebendig geschrieben

In den Häusern der anderen -

In den Häusern der anderen
von Karolina Kuszyk

Bewertet mit 5 Sternen

REZENSION – Noch immer vom überraschenden Erlebnis beeindruckt, berichtete mir mal vor langer Zeit ein Verwandter von seinem Besuch mit seiner alten Mutter in den frühen Siebziger Jahren in deren Elternhaus im niederschlesischen Wrocław (Breslau): Drinnen entdeckte die alte Dame die ihr aus der Jugend vertrauten Bilder an der Wand, wo sie bereits jahrelang hingen, bevor die Familie im Jahr 1945 in den Westen floh. So erstaunlich dies heute klingen mag, war es zu jener Zeit kein Einzelfall, wie die 1977 in Legnica (Liegnitz) geborene polnische Autorin Karolina Kuszyk (46) anhand ähnlicher Erlebnisberichte in ihrem im Oktober 2022 im Ch. Links Verlag erschienenen Sachbuch „In den Häusern der anderen“ nachweist. Das in Polen bereits 2019 veröffentlichte Buch soll dort – so die Angabe des Verlags – „eine lebhafte Diskussion über den Umgang mit dem deutschen Erbe“ angeregt haben.

Bücher über Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostprovinzen gibt es in Deutschland zuhauf, meist basierend auf Erinnerungen Betroffener, nicht selten subjektiv und einseitig aus deren Sicht. Genau darin unterscheidet sich das Buch der seit vielen Jahren in Berlin lebenden und mit einem Deutschen verheirateten polnischen Autorin. In ihrem bis ins Detail sorgsam recherchierten und durch mehrseitigen Quellen- und Literaturnachweis belegten Text erzählt sie zwar ebenfalls von Flucht und Vertreibung, doch diesmal aus polnischer Sicht über das vergleichbare Vertreibungsschicksal ihrer Landsleute aus den gegen Kriegsende von der Sowjetunion besetzten Gebieten Ostpolens. Die dortige Einwohnerschaft wurde gemeinsam mit anderen ethnischen Minderheiten wie Ukrainern und Juden in die von Deutschen verlassenen „wiedergewonnenen Gebiete“ Westpolens zwangsumgesiedelt. Auch sie verloren ihre Heimat, ihr Hab und Gut und kamen mit kaum mehr als den Kleidern am Leib im Westen an. In der Fremde mussten sich diese Zwangsumgesiedelten entweder selbstständig eine von Deutschen verlassene und - sofern nicht von Soldaten der Roten Armee vorher ausgeplündert – noch immer voll eingerichtete Wohnung suchen, oder ihnen wurde ein neues Zuhause von der polnischen Ortsverwaltung zugewiesen. Da die aus Ostpolen Vertriebenen in der westlichen Fremde nichts Eigenes hatten, blieb ihnen keine andere Wahl, als in diesem „deutschen Erbe“ weiterzuleben und sich „von deutschen Gegenständen, Geräten, Formen und vom deutschen Geist“ prägen zu lassen. „Es war nicht schön, das deutsche Zeug zu benutzen, aber was hätten wir tun sollen?“, erinnert sich eine damals Vertriebene. Zu seiner Überraschung findet sogar noch der deutsche Ehemann der Autorin beim Besuch seiner polnischen Schwiegereltern auf der Unterseite einer Porzellanschale ein kleines Hakenkreuz im Markenzeichen. Die robuste Schale hatte sich seit 1945 im Haushalt bewährt. Erst die Kinder, die zweite Generation in den von Polen „wiedergewonnenen Gebieten“, entledigten sich bei Gründung des eigenen Hausstandes dieses „deutschen Plunders“, um sich zeitgemäß modern („sozialistisch“) einzurichten. Denkmäler wurden in den 1970er Jahren abgetragen und zerstört, deutsche Inschriften an Gebäuden entfernt, deutsche Häuser abgerissen und Friedhöfe zerstört. Eine Rückbesinnung erfolgte erst wieder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei der dritten Generation, zu der sich auch die 46-jährige Autorin zählt. Deren Angehörige erinnern sich des deutschen Erbes und bemühen sich, die einst unter kommunistischer Herrschaft in Misskredit geratenen „Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen“ wieder aufzudecken und zu bewahren. Wo früher deutsche Denkmäler abgebaut wurde, fallen heute solche aus Sowjetzeiten.

Mit wissenschaftlicher Genauigkeit, dank zeitlichen Abstands ohne Vorurteil, dafür mit Empathie für die deutschen wie polnischen Vertriebenen zeigt Karolina Kuszyk in ihrem Buch die Spuren deutscher Vergangenheit auf und erläutert anhand der aufgezeichneten Erlebnisse und Anekdoten den wechselhaften Umgang ihrer Landsleute damit. „Ich bin fest überzeugt, … dass wir den nachwachsenden Generationen das ehemals Deutsche erklären müssen, so gut wir können“, schreibt die Autorin am Schluss ihres noch vor der Übersetzung mit dem deutschen Arthur-Kronthal-Preis 2020 ausgezeichneten Buches, mit dem sie zweifellos auch bei der heranwachsenden vierten Generation Polens und Deutschlands für ein besseres Verständnis beider Völker beitragen kann.