Rezension

Horror-Reise durch die Abgründe subtilen Grauens

Der Geist von Lucy Gallows -

Der Geist von Lucy Gallows
von Marshall Kate Alice

Bewertet mit 5 Sternen

Einmal im Jahr lädt die Straße in Briar Glen auf eine Reise ein. Sie erscheint mitten im Wald um Punkt Mitternacht und der Geist von Lucy Gallows ruft nach Mitreisenden.

Beim Titel "Der Geist von Lucy Gallows" habe ich an eine gruselige Erzählung in Richtung feinen Horror und klassischer Exorzismus-Gespenster-Geschichte gedacht. Deshalb musste ich dieses Buch unbedingt lesen. Gerechnet hatte ich mit jugendlichem Flair, geisterhaften Erscheinungen und einem typischen Verlauf. Und dann hat mich Kate Alice Marshall auf eine  Horror-Reise durch die Abgründe des subtilen Grauens geschickt. 

Sarahs Schwester Becca ist genau vor einem Jahr verschwunden und wurde seither nicht mehr gesehen. Offiziell hat sie sich mit einen Typen abgesetzt, was laut Sarahs Einschätzung nicht passt. Eher hat Beccas Verschwinden mit dem Geist von Lucy Gallows und der Straße zutun, die einmal im Jahr um Mitternacht mitten im Wald erscheint. Denn alle Jahre wieder lädt die Straße auf einen Horror-Trip ein. 

Autorin Kate Alice Marshall lässt sich nicht groß auf Vorgeplänkel ein, sondern zieht Leser und Figuren sofort auf den dunklen Weg. Eine Gruppe von Jugendlichen wünscht sich, Becca zu finden, deshalb begeben sie sich pünktlich in den Wald um die Wanderung ins Ungewisse anzutreten. 

Damit fängt ein grausames Horror-Spektakel an, das eine Mischung aus "Alice im Wunderland" und "Blair Witch Project" in staunenswert dunkler Färbung ist. Die Jugendlichen beschreiten einen Weg, bei dem es nur in eine Richtung geht. Es gibt kein Zurück, sondern nur ein grauenhaftes Vorwärts, das mit unaussprechlicher Angst, Dunkelheit und manischer Verwirrung verbunden ist. 

Beim Lesen blieb mir aufgrund der Ereignisse auf der Straße die Luft weg. Fantastisches Grauen fließt zwischen den Seiten heraus, die Dunkelheit wabert um sich, die Verwirrung steigt, der Horror schält sich aus der Finsternis und kriecht in die Köpfe von Figuren und Leser hinein.

Ich denke, man merkt, dass es mir ausgezeichnet gefallen hat. Normalerweise wäre mir der vorhandene Fantasy-Einschlag zu üppig, weil ich realistischen - so weit man davon überhaupt sprechen kann -  Horror lieber mag. Trotzdem hat mich die Straße in ihren Bann gezogen, die Ungewissheit der Reise nicht losgelassen und die abstrus-grauenhaften Ereignisse haben mir schaurige sowie fürchterliche Momente beschert. Stell dir vor, du stehst in der totalen Finsternis und hältst die Hand deines besten Freundes. Du hast Angst, du weißt nicht, wohin du gehst. Und auf einmal merkst du, dass dein bester Freund hinter dir steht. Wessen Hand hältst du dann?

Obwohl die Reise auf der Straße den Hauptstrang einnimmt, wird in Rückblenden davon erzählt. Protagonistin Sarah sitzt bei einem Art Verhör und berichtet, was sie mit ihren Freunden erlebte, als sie zur richtigen Zeit den falschen Weg gegangen sind. Außerdem werden Chatverläufe, wie zum Beispiel sms, Videobeweise von Smartphones, Briefe und Interviews herangezogen, um Licht in die Dunkelheit zu bringen.

Der Erzählstil ist eher bedächtig, dafür umso fesselnder. Von Beginn an ist die Stimmung beklemmend und beängstigend und ich ging gemeinsam mit den Jugendlichen die Straße ins Ungewisse entlang. Manchmal ist es verwirrend, die Erzählung läuft quer und bleibt dabei auf einer Schiene, die für schaurige Augenblicke sorgt. Brutale Szenen, subtiler Horror und blutige Passagen runden "Der Geist von Lucy Gallows" zu einer denkwürdigen Reise in die schwarze Welt des Horrors ab, wie ich sie bisher nicht gelesen habe.

Meiner Meinung nach ist dieser Horror-Roman nicht für jeden Leser geeignet. Ich glaube, dass es für manche zu verquer und wirr, vielleicht sogar langweilig ist. Mich hat genau die Art der dunklen Erzählung gebannt, mir zugesetzt und ordentlich Angst eingejagt. Für mich ist es eines der besten Horror-Bücher der letzten Zeit, das ich an Interessierte unbedingt empfehle.