Rezension

"Ich hab alles erlebt."

Der Gott jenes Sommers - Ralf Rothmann

Der Gott jenes Sommers
von Ralf Rothmann

Bewertet mit 4 Sternen

In letzter Zeit sind ein Reihe hervorragender Romane erschienen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg bzw dem Leben im Nationalsozialismus beschäftigen und zwar aus deutscher Sicht. Ich finde das sehr gut und richtig so, denn nur, wenn man sich erinnert, wenn aus "den Deutschen" Einzelschicksale werden, wenn Menschen agieren und nicht eine anonyme Masse, kann man das Geschehene verarbeiten und einen persönlichen Bezug herstellen. Und das ist gerade für die heutigen Generationen immens wichtig, herrscht doch in den meisten Familien immer noch betretenes Schweigen darüber, was Großvater oder Großmutter wohl zu der Zeit getan haben, gibt es zwar Zahlen- und Zeittafeln im Geschichtsunterricht, aber nur selten die Frage, wie ist es in meinem Heimatort gewesen, was genau ist da eigentlich passiert.
Ralf Rothmann nun hat so einen Roman geschrieben, der nicht im Nirgendwo spielt, sondern auf dem Lande in der Nähe von Kiel. Dorthin flüchtet die zwölfjährige Lisa mit Mutter und Schwester 1945 aus der zerbombten Stadt. Dort ist das Gut ihres Schwagers Vinzent, eines SS-Offiziers, wo sie unterschlüpfen dürfen. Und dort lässt Rothmann auf engstem Raum mit kleinem Personal ein fast klassisches Drama entstehen.
Während Lisa sich das erste Mal verliebt, beginnt ihre lebenslustige Schwester eine Affaire mit Vinzent, die die Familie letztendlich in den Abgrund reißen wird. Und so kann Lisa am Ende des Krieges sagen "ich hab alles erlebt". Und überlebt.
Der Autor zeigt, wie Hass und Eifersucht Familienbande zerstören, wie ideologischer Glaube und die Macht zur Willkür jegliche Moral vernichten. Wenn man ein überzeugter Herrenmensch ist, dann fehlt jegliches menschliche Maß, dann steht man über der Menschlichkeit, bietet sich die Möglichkeit zu hemmungslosem Machtmißbrauch, denn die anderen haben es ja nicht besser verdient.
Wie die Hitlergetreuen damals alle menschlichen Werte untergraben haben, eine Atmosphäre von Angst und Denunziation geschaffen haben, das zeigt dieser Roman sehr leise und trotzdem unglaublich eindrücklich. Man sieht das Große im Kleinen, die Abläufe in Deutschland anhand einer Stadt, eines Dorfes, eines Gutes, einer Familie unter der Lupe. Wie man eben plötzlich der eigenen Tochter, Schwester, dem Schwager, Schwiegersohn nicht mehr trauen kann und wie schleichend diese Machtverhältnisse sich verlagert haben. Man sieht aber auch, wie sehr die Menschen versucht haben, sich den Alltag zu erhalten, ein Stück Normalität.
In der heutigen Zeit und besonders nach den Ereignissen in Chemnitz, wünsche ich diesem Roman viele Leser. Leser, die mit der Lektüre begreifen, dass diese Atmosphäre doch wirklich nichts sein kann, was man sich für sich und sein Land erneut wünschen kann. Die erkennen, dass Menschlichkeit eines unserer höchsten Güter ist.