Rezension

Im nördlichen Montana gehen die Uhren anders ...

Montana - Smith Henderson

Montana
von Smith Henderson

Bewertet mit 4 Sternen

Pete Snow arbeitet in Tenmile/Montana beim Sozialen Familiendienst. Er kämpft gegen ein schier undurchdringliches Dickicht aus Armut, Kriminalität, Sucht, Gewalt und Kindesmissbrauch und versucht die größte Not irgendwie zu lindern. Doch stets gibt es mehr Kinder in schwierigen Verhältnissen als Menschen, die sich ihrer annehmen können. Hier oben macht jeder alles und die Uhren gehen noch anders. Im nördlichen Montana muss man sich irgendwie durchschlagen, z. B. mit einem Job im Sägewerk, nachdem die Gold-, Silber- und Kupfervorräte der Region abgebaut sind. Die Handlung spielt 1980 zur Zeit des Wahlkampfs Reagan/Carter. Auch Pete hatte keine Wahl und übernahm seinen Job, weil er getan werden musste. Aktuell versucht er den Jungen Cecil unterzubringen, der aufgrund seiner psychischen Auffälligkeit besser vorher von einem Psychiater begutachtet werden müsste. Pete vermutet, dass Cecil am ADHS leidet und zusätzlich Gewalt erfahren hat. Pete, der irgendeinen geisteswissenschaftlichen Abschluss hat, aber keine pädagogische Ausbildung erkennen lässt, weist Kinder in Heime ein, obwohl ihm klar ist, dass sie dort erneut misshandelt werden.

Im Ort taucht eines Tages allein ein kleiner Junge auf, verwildert wie ein Waldschrat und offensichtlich krank und unterernährt. Benjamin Pearl lebt mit seiner Familie in den Wäldern. Sein Vater Jeremiah Pearl hat sich bewaffnet und dort verschanzt in Erwartung des bevorstehenden Weltuntergangs. Juden, Freimaurer, die Pest, Wölfe, Geldwirtschaft, der Holocaust, Pearl lässt kein Feindbild aus und fühlt sich von jedem verfolgt und bespitzelt. Der christliche Fundamentalismus der Familie wird maßgeblich von Pearls Frau angetrieben, er selbst hat den Part des radikalen Anarchisten übernommen und bekämpft den Staat mit allen Mitteln. In den Wäldern geht es hoch her, Pearl stört dort offensichtlich die Kreise anderer Einwohner, die wiederum einen Heidenrespekt vor ihm haben. Niemanden kümmert, dass Pearls Kinder nicht zur Schule gehen und niemand hat bisher Benjamins Geschwister zu Gesicht bekommen. Über vorsichtigen Kontakt zu dem Elfjährigen gelingt es Snow, die Familie mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen. In seiner Rolle als gutgläubiger Helfer reflektiert Pete weder, dass er selbst Spuren hinterlässt, die die Pearls in Gefahr bringen, noch welche Folgen sein Handeln für ihn selbst haben wird. Unbedarfte Protagonisten machen mich stets ungeduldig, so dass ich diesen Abschnitt erheblich zu lang fand.

Pete hilft vernachlässigten Kindern, weil er seiner eigenen Familie nicht helfen kann. Sein Bruder ist immer wieder straffällig geworden und steht zur Zeit unter Aufsicht eines Bewährungshelfers; für die wirtschaftlich ertragreiche Ranch der Snows gibt es noch immer keinen Nachfolger, und Petes Frau hat ihn mit der gemeinsamen Tochter verlassen. Eingeschoben in die Ereignisse um die Kinder Cecil und Benjamin finden sich Interviews, in denen eine erstaunlich gut informierte dritte Person zum Schicksal von Petes Tochter Rachel befragt wird und sich in origineller Sprache äußert. Es klingt beinahe, als würde Rachel einem Therapeuten gegenübersitzen und könnte sich nur in der dritten Person über ihre Empfindungen äußern. Als Rachel aus dem Trailerpark ausreißt, in dem sie beim Lover ihrer Mutter untergeschlüpft waren, lässt Pete in Montana alles liegen und stehen, um Rachel in Texas zu suchen. Der zweite Teil nimmt erheblich an Tempo auf, es lohnt sich also, bis hierher durchzuhalten.

Pete nimmt eine widersprüchliche Rolle in der Geschichte ein. Im Privatleben gescheitert und als Angehöriger selbst Klient von Sozialpädagogen, trennt ihn nur eine haarfeine Linie vom Absturz in Suff und Gewalt. Eine Liebesbeziehung zu einem problematischen Opfer von Missbrauch zieht Pete noch weiter herunter. Sein spontanes Handeln aus dem Bauch heraus ist beim Lesen nur schwer zu ertragen. Petes fatal endende Beziehung zu einer Familie von religiösen Fundamentalisten und Weltuntergangstheoretikern ist in unserer Kultur nur schwer vorstellbar. Sie zeigt jedoch eindringlich und höchst aktuell, auf welchem Boden religiöser Fundamentalismus entsteht und durch eine Laissez-Faire-Haltung des Staates weitere Nahrung erhält. Ob amerikanische Leser diesen Zusammenhang erkennen können? Sprachlich wirkt Hendersons Roman gradlinig, schnörkellos und stets dicht an Pete Snows Erleben. Von einem Roman aus einem angesehenen Verlag hätte ich mir größere Sorgfalt gewünscht bei der Trennung zwischen den Worten und Gedanken der Figuren (die so sprechen, wie man es eben in ihrer Gegend tut) und der Sprache des Erzählers, der meiner Ansicht nach im Ausdruck neutral bleiben sollte. Auch die Übersetzung sollte sich für die Erzählerstimme Grammatikfehler und Dialektausdrücke verkneifen.

Im Bewusstsein, dass die Handlung vor 35 Jahren spielt, halte ich „Montana“ für keinen herausragenden, aber guten Roman über die fatale Begegnung zwischen einem für seine Arbeit nur mittelmäßig qualifizierten Familienhelfer und einem radikalen Anarchisten und religiösen Fundamentalisten.

Zitat

"Pete ging einfach weiter, zwischen den Autos und Pick-ups und Trailern hindurch, über zerstampfte Erde, niedergetrampelte Stachelbeerbüsche und dann unter Erlen und Lärchen entlang. Er folgte dem Schotterweg bergab und erreichte nach einer Weile das schlammige Ufer eines Tümpels am Ende von [...]s Land. Der Hund kam bellend über die Weide gerannt, als Pete sich näherte. Er hielt dem Tier beide Hände hin, und als er seinen Weg fortsetzte, trottete der Hund neben ihm her, lieferte ihn quasi an der Haustür ab. [...]s Kinder spielten im Hof Fangen. Katie rutschte von der Reifenschaukel herunter und lief zu ihm, als wäre es das Normalste der Welt, dass Pete aus dem Wald trat, um sie zu besuchen. Vielleicht lag es an den Märchen, die sie so liebte, vielleicht auch an ihrer Mutter. Oder es lag einfach in der Natur des Kindseins, die Dinge ohne Zweifel oder Angst zu betrachten, es war schon lange her, Pete wusste es nicht mehr." (Seite 523/524)