Rezension

Im Sog der Geschichte

Die zitternde Welt -

Die zitternde Welt
von Tanja Paar

Bewertet mit 3.5 Sternen

Unser 21. Jahrhundert steht im Zeichen der Globalisierung. Wer im richtigen Land geboren ist, dem stehen theoretisch alle Türen weltweit offen. Er kann reisen, arbeiten und leben, wo er will. Das ist allerdings nicht allen Weltbürgern vergönnt, die Mittel und Möglichkeiten sind ungerecht verteilt. Das scheint irgendwie ein Prinzip der Menschheit zu sein: Viele arme Menschen, die für wenige Reiche schuften und deren Wohlstand mehren. Wilhelm und Maria wollten sich diesem Schicksal nicht ohne Widerstand ergeben. Er ging als Ingenieur in den mittleren Osten, um dort zu Wohlstand zu gelangen und Maria eine Zukunft bieten zu können. Sie reiste ihm hochschwanger hinterher. Der Sohn Hans kam gesund und munter zur Welt, sein kleiner Bruder Erich im Jahresverlauf hinterher sowie Nachzüglerin Irmgard und geheiratet wurde dann einige Jahre später. So wie das in unserer Zeit gang und gäbe ist. Könnte man denken. Allerdings gründeten Maria und Wilhelm im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Familie. Die Zeit, in der die Welt noch vorwiegend in Herrschaftsreiche aufgeteilt war und nicht in Staaten. In Anatolien, Teil des Osmanischen Reiches, investierte die Deutsche Bank 1889 in die Anatolische Eisenbahngesellschaft, die begann die anatolischen Städte mit Bahnschienen zu verbinden. Hier fand Wilhelm Arbeit als Ingenieur und Maria die Freiheit, ihr eigener Herr zu sein. Das Leben im kleinen Ort Bünyan war einfach und günstig und dennoch luxuriöser als sich beide ihr Leben im Kaiserreich Österreich-Ungarn hätten vorstellen können. Das Großprojekt Berlin mit Bagdad durch Schienen zu verbinden, garantierte Wilhelm auf lange Jahre Arbeit und der Familie ein gutes Auskommen, wenn auch die Familie den Bahnabschnitten zuweilen hinterher ziehen musste. Doch dann steht der 1. Weltkrieg im Raum und mit ihm lebensbestimmende Entscheidungen. Die Familie wird in den Sog der Mächteverschiebungen mit ungewissen Ausgang hineingezogen.

Tanja Paars Roman „Die zitternde Welt“ betrachtet eine wichtige und schmerzliche Epoche unserer deutschsprachigen Geschichtsschreibung aus einem ungewohnten Blickwinkel und lässt dabei unsere zeitgenössischen Diskurse um Einwanderung und Integration mit anklingen. Wilhelm findet in einem fernen Land als Fachkraft Arbeit, die Kinder werden in Anatolien geboren, Maria liebt das Exotische der neuen Heimat, die ihr mehr Freiheit bietet und eine wesentlich exponiertere Stellung als in der alten Heimat. Dennoch lebt die Familie unter „ihresgleichen“ – sie werden keine Einheimischen, sondern bleiben die Zugezogenen. Für die Kinder eine Herausforderung. Im kleinen Ort Bünyan wachsen sie mit den Dorfkindern auf, sprechen türkisch wie deutsch. Die Türkei ist die einzige Heimat, die sie kennen. Österreich-Ungarn bleibt das Land ihrer Eltern. Das sieht auch das Gesetz im Osmanischen Reiches so, Hans und Erich sollen als Soldaten eingezogen werden und in der Armee der Türken kämpfen. Nur mit Hilfe des Paschas können die Söhne nach Europa entkommen, allerdings jeder auf sich gestellt. Maria und Wilhelm verlieren ihre selbstgewählte Heimat, müssen sich mitten im Ersten Weltkrieg in Wien ein neues Leben aufbauen und um ihre Söhne bangen. In der Familie kämpft plötzlich jeder auf sich allein gestellt um die eigene Identität und versucht sich in dem Chaos der Welt, den Kriegstraumata, der Idee einer neuen Zukunft wiederzufinden.

Tanja Paar lässt in ihrem Erzählen Raum für den Leser. Sie gibt nicht alles im Inneren ihrer Figuren preis, erzählt mit einer leichten Distanz und wechselnden Perspektiven. Die Hauptfiguren sind nicht zwangsläufig Sympathieträger, sondern werden als Menschen mit Stärken und Schwächen gezeichnet. Menschen, die sich nicht dem vorgezeichneten Weg ergeben wollen, sondern selbstbestimmt über ihre Zukunft entscheiden. Doch die Selbstbestimmung gerät ins Hintertreffen vor dem Kriegstreiben der Mächte, wird zerrieben im täglichen Kampf ums Überleben. Für den Leser ist es schwer mitzuerleben, wie aus jungen, furchtlosen Träumern traumatisierte, verbitterte Menschen werden und eine Familie zerbricht ohne Hoffnung auf Versöhnung. Das ist es, was der Krieg den Menschen und ihren Familien antun kann und es ist erschreckend, dass die Welt sich in dieser Thematik außerhalb der westlichen Hemisphäre keinen Millimeter bewegt hat.