Rezension

In der 9. Generation

Tod durch das Fallbeil
von Johann Dachs

Bewertet mit 4 Sternen

»Betreff: Bewerbung um die Stelle des Nachrichters/Scharfrichters. Am 1.4.24 treten Volksgerichte außer Kraft. Infolgedesse werden die Hinrichtungen in Bayern wieder durch Enthauptung vollzogen. Nachdem der bisherige Nachrichter pensioniert ist, ist die Stelle für Bayern freigeworden und ich möchte mich für das vormerken lassen. Am 29.4.1893 bin ich in Wichenbach, Bezirk Regensburg, als Sohn der Wasenmeisterseheleute Michl und Maria Reichhart geboren. Ich besuchte die Volksschule, erlernte die Metzgerei und war bis zum 21. Lebensjahr in verschiedenen norddeutschen Städten als Metzgergeselle tätig. 1914 rückte ich freiwillig zum Militär ein und machte den Feldzug bei der Infanteriemaschinengewehrkompanie 76 Hamburg mit. Nach dem Kriege arbeitete ich 1 ½ Jahre bei der Lokomotivfabrik Kraus und als Metzger. Geheiratet habe ich 1921. Bis zum Jahre 1923 betrieb ich das Wirtsgewerbe, jetzt habe ich ein Lohnfuhrwerk in Neubiberg. Vorbestraft bin ich weder militärisch noch in Zivil. Auch kein Verwandter von mir ist vorbestraft. Leumundszeugnisse können überall an meinen Aufenthaltssorten erhalten werden. Meine Familie besteht aus Frau und 2 Kindern, 1 ½ Jahr und 6 Monate.«

Als sich Johann Reichhart 1924 für den Posten des Scharfrichters bewirbt, ist das für ihn ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Großgeworden in einer Familie, in der sich dieses Amt von Generation zu Generation vererbt, war es für ihn vermutlich schon früh eine klare Sache: Sobald der Onkel in Pension geht, tritt er dessen Nachfolge an. Auf seine Bewerbung kam dann auch prompt die Zusage und so wurde der damals 31jährige Reichhart der neue Scharfrichter – in der 9. Generation seiner Familie.

Er blieb im Amt bis zum Jahr 1947 und vollstreckte in dieser Zeit insgesamt 3.165 Todesurteile.

 

Als ich dieses Buch sah, war ich vom Thema gleich fasziniert. Zum Glück ist die Todesstrafe in unserem Land abgeschafft, aber anderswo (zum Beispiel in Teilen der USA) gehört sie nach wie vor zur Rechtsprechung. Was sind das für Menschen, die einen solchen Beruf ausüben? Wie leben sie eigentlich damit? Ich versprach mir von dem Buch Infos dazu – und habe sie auch erhalten.

 

Das Buch reist zunächst noch ein Stückchen weiter zurück in die Geschichte, erzählt von der Familie Reichhart und ihrer – nunja – besonderen Tradition, die sich in gleicher Weise auch in anderen Scharfrichterfamilien findet. Vereinfacht kann man sagen: Irgendjemand musste den Job machen, aber mit demjenigen, der es tat, wollte niemand sonst etwas zu tun haben. So gab es für die Angehörigen einer Scharfrichterfamilie meist weder die Möglichkeit, einen „normalen“ Beruf zu ergreifen, noch in eine „normale“ Familie einzuheiraten. Also blieb man unter sich und bei seinem Gewerbe.

 

Da Johann Reichhart fast nur mit dem Fallbeil richtete, wird auch noch mal auf die Geschichte des Fallbeils geschaut. Die Guillotine wurde von ihrem Erfinder, dem Arzt Dr. Guillotin, ganz im Dienste einer humanen Hinrichtung entwickelt…

»Sie spüren nicht den leisesten Schmerz, höchstens einen ganz kurzen Hauch über dem Nacken.«

Tatsächlich waren die zum Tode Verurteilten zu dieser Zeit in Bayern (sofern man das sagen kann) besser dran als ihre Schicksalsgenossen in beispielsweise Berlin. Der dortige Scharfrichter übte sein Handwerk immer noch mit dem Beil aus.

 

Reichhart war froh, dass er mit dem Fallbeil richten konnte. Für ihn bestand zwar nie ein Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe, aber er war der Überzeugung, dass die Vollstreckung so schnell und so schmerzlos wie möglich geschehen sollte, um dem Verurteilten unnötige Qualen und Angst zu ersparen. Auf sein „erstes Mal“ bereitete er sich daher gründlich vor…

»Johann Reichhart war noch nicht ganze vier Monate als Scharfrichter im Amt, als er am 4. Juli 1924 im Hof des Landgerichtsgefängnisses in Landshut seine erste Hinrichtung vollziehen sollte. Sein Onkel hatte ihm zwar alle nötigen Handgriffe gründlich beigebracht, und Reichhart selbst hatte die vergangenen Monate genutzt, um mehrmals mit der Guillotine zu „üben“, zuerst an Puppen und dann einmal an einer Leiche, die ihm von der Gerichtsmedizin zur Verfügung gestellt worden war.«

Seine Aufregung war trotzdem groß und er im Anschluss sehr erleichtert…

»Die ganze Hinrichtung hatte höchstens vier Minuten gedauert. Schwer atmend meldete der Scharfrichter dem Staatsanwalt: „Das Urteil ist vollstreckt!“ Der Staatsanwalt gratulierte Reichhart zur bestandenen „Feuertaufe“ und wünschte im weiterhin „viel Erfolg“.«

 

Im Beruf lief es also gut für ihn an – aber wie stand es um sein Privatleben? Er hatte Frau, er hatte mehrere Kinder und das Geld reichte vorne und hinten nicht. Er wurde pro Hinrichtung bezahlt und in der Weimarer Republik bedeutete dies ein sehr unregelmäßiges Einkommen. Viele Todesstrafen wurden in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt, tatsächlich vollzogen wurden bis Ende 1928 „nur“ 23 Hinrichtungen. Für Reichhart bedeutete das, dass er manchmal monatelang überhaupt nichts verdiente. Und eine andere Verdienstmöglichkeit bot sich ihm auch nicht wirklich, da niemand den Scharfrichter beschäftigen, mit ihm Handel treiben, mit ihm nur verkehren wollte. Diese Jahre sind geprägt von diversen Versuchen, irgendwie Geld zu verdienen – beispielsweise als Wirt, Vertreter für eine katholische Verlagsbuchhandlung, Tanzlehrer oder Hundezüchter.

Immer wieder bat er darum, ihm für seine Tätigkeit ein höheres und regelmäßiges Einkommen zu zahlen. Sein Onkel war schließlich noch verbeamtet gewesen!

»Johann Reichhart, der sich wohl immer noch Hoffnungen auf eine feste Anstellung, wenn nicht gar Verbeamtung im Bayerischen Staatsdienst gemacht hatte, mußte erkennen, daß das Amt des Scharfrichters wie einst im Mittelalter verfemt und geächtet war. Niemand wollte im Grunde mit ihm zu tun haben. Der Scharfrichter war und blieb ein „ehrloser“ Mann, auch im 20. Jahrhundert.

Reichhart befand sich in einer verzweifelten Situation. Sein blutiges Handwerk brachte ihm viel zu wenig ein, allenfalls einen kleinen Nebenverdienst, hinderte ihn aber andererseits daran, in einem bürgerlichen Beruf Erfolg zu haben. Denn wer wollte schon einen Scharfrichter einstellen oder mit ihm geschäftlich oder privat zu tun haben.«

 

Erschwerend kam noch hinzu, dass er sich „entgegen der dienstlichen Verpflichtung, nichts über seine Tätigkeit an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen“ häufig brüstete, „der schnellste Scharfrichter zu sein, den Bayern bisher gehabt habe.“ Rein menschlich kann man das vielleicht noch nachvollziehen – es gab schließlich sonst nichts, womit er hoffen konnte, zu Ansehen zu gelangen. Es brauchte eine Weile, bis er einsah, dass er in keiner Weise eine Chance hatte, soziale Anerkennung zu erlangen.

 

Er stellte einen Antrag auf Auflösung seines Vertrages, dieser wurde aber abgelehnt. Aber man ließ ihn nach Holland ziehen, wo er – unbekannt – sich ein zweites Leben als Gemüsehändler aufbaute und nur wenn er gerufen wurde, zur Vollstreckung einreiste. Irgendwann war aber auch in Holland bekannt geworden, was der nette Gemüsehändler so noch trieb. Da war es aus mit dem Doppelleben und er verließ Holland wieder. Es war das Jahr 1933. Erneut dachte er an Kündigung aber man belehrte ihn, dass er Pflichten gegenüber dem neuen Staat habe und man auf seine Erfahrung nicht verzichten könne. Und um die Sache zu erleichtern, gab es auch gleich einen neuen Arbeitsvertrag, mit monatlich 250 Reichsmark plus 60 Reichsmark Sondervergütung je Hinrichtung. Nun brachen ganz neue Zeiten an für ihn.

»Mit dem NS-Regime hatte sich der Scharfrichter Reichhart rasch arrangiert. Vorbei waren die Zeiten, in denen er immer wieder bei seiner vorgesetzten Dienststelle um eine finanzielle Nachbesserung betteln mußte. der Scharfrichter des NS-Staates brauchte sich nicht mehr verstecken oder gar beleidigen lassen. Er war ein gefürchteter, aber gleichzeitig in der Öffentlichkeit respektierter Mann, dessen Aufgabe es war, die „im Namen des Deutschen Volkes“ gefällten Todesurteile zu vollziehen.«

 

Wie es dann weiterging, kann man sich vorstellen. Allein zwischen 1940 und 1945 vollstreckte Reichhart 2.805 Todesurteile, unter anderem an Hans und Sophie Scholl. Anfänglich hatte er auch keine Gewissensbisse verspürt, schließlich diente er dem Staat und der Ordnung – aber irgendwann merkte er natürlich auch, dass ihm nicht mehr – so wie früher – nur Mörder und Sexualstraftäter gegenüber treten mussten. Blicken wir doch mal ins Jahr 1944:

Vier Gehilfen beschäftigte Reichhart mittlerweile, die ihm stets vorauseilten und die Guillotine aufstellten, damit er bei seinem Eintreffen ohne Verzug an die „Arbeit“ gehen konnte. Er und seine Gehilfen waren zu Perfektionisten im Töten geworden. Das Fallbeil kam nur noch selten zur Ruhe. Reichhart tötete damit im Auftrag der NS-Justiz, täglich und oft im Dreiminutentakt. Manchmal zehn, zwanzig, ja sogar bis zu dreißig Menschen starben durch ihn an einem einzigen Tag.

Reichhart tötete, weil Richter und Staatsanwälte ihm den Vollzug der Todesstrafe überantworteten. Als er, unvorsichtig, einmal laut darüber nachdachte, wann dieses Menschenabschlachten endlich aufhören werde, wurde er scharf zur Ordnung gerufen: „Sie leisten kriegswichtige Arbeit. Es steht Ihnen nicht zu, Richter, Staatsanwälte und rechtskräftig erlassene Urteile in Frage zu stellen. Sie haben Befehlen zu gehorchen und diese bedingungslos auszuführen!“

 

Das Buch befasst sich noch mit einigen Einzelfällen, zum Beispiel mit der ersten Frau, die Reichhart hinrichtete – und den anfänglichen Skrupeln, die er dabei hatte. Mit einer vierfachen Giftmörderin oder einem mehrfachen Kinderschänder und –mörder, der schnellstens hingerichtet werden musste, bevor er „natürlich“ an Leberkrebs starb. Letzten Endes war Reichhart ein Mensch geworden, der professionell seine Arbeit machte, auch wenn es sich bei den Verurteilten um zwei alte Freunde, Kameraden aus dem 1. Weltkrieg, handelte, denen er sein Leben verdankte.

 

Und wie ging es danach für ihn weiter? Mit dem Einmarsch der Amerikaner 1945 wurde er verhaftet. Jedoch…

Die Haft des Scharfrichters war nämlich nur von kurzer Dauer. Bereits nach einer Woche öffneten sich für ihn die Gefängnistore. Am Haupteingang erwartete ihn ein amerikanischer Offizier.

„Guten Morgen, Herr Reichhart. [Alles in perfektem Deutsch] Wie geht es Ihnen? Haben Sie die Nacht gut verbracht? Ich weiß, zu Hause im Bett schläft es sich besser. Aber Sie haben das Schlimmste hinter sich. Ein paar Dinge werden Sie für uns noch erledigen müssen, dann dürfen Sie wieder nach Hause.“

 

Welche Dinge das waren, kann man sich denken. Mit der Freiheit war es aber vorbei, als die Amerikaner Reichharts Dienste nicht mehr benötigten. Im Mai 1947 holte die Militärpolizei den Henker aus seiner Wohnung in Gleißental und brachte ihn nach Moosburg an der Isar ins Internierungslager. Sowohl seine Haft als auch das anschließende Gerichtsverfahren werden behandelt – und die Zeit danach. Wie lebte Reichhart als alter Mann? Hatte sich an seiner Einstellung irgendwas geändert?

 

Vervollständigt wird das Ganze mit statistischen Daten zu Hinrichtungen in Deutschland, Fotos, Aktenauszügen und Gerichtsprotokollen. Interessant fand ich auch die Ausführungen zur erheblichen Selbstmordrate unter Henkern. Der Autor befasste sich (in anderen Büchern) sehr viel mit authentischen Kriminalfällen aus alter Zeit, daher hat er auch einige Straftaten, an deren Ende die Hinrichtung stand, hier geschildert. Zwischendrin hatte ich dadurch das Gefühl, kein Sachbuch, sondern einen Krimi zu lesen, aber das war im Grunde gar nicht schlecht, denn es lockerte auf. Von unterhaltsam kann man natürlich nicht sprechen, aber für mich las sich das Buch trotzdem überraschend leicht. Was die Frage nach dem Menschen Reichhart anging, bemühte sich das Buch um eine neutrale Schilderung, ich schwankte wechselnd zwischen vorsichtigem Verständnis und purem Grauen.

 

Fazit: Ein Sachbuch zu einem grausigen Thema, mit reichlich Fakten, Hintergründen und eingestreuten „Krimi-Anteilen“.   

 

Am 13. Dezember 1948 begann vor der Spruchkammer IV in München die Verhandlung gegen den Scharfrichter des Dritten Reiches. … Vom Spruchkammervorsitzenden zu einem Schlußwort aufgefordert, sagte Reichhart: „Ich habe Todesurteile vollzogen in der festen Überzeugung, dem Staat mit meiner Arbeit zu dienen und rechtmäßig erlassene Gesetze zu befolgen. Erst jetzt ist mir so recht bewußt geworden, wie sehr ich in meinem blinden Glauben und Gehorsam gegen den Staat und seine Oberen ausgenutzt, ja mißbraucht worden bin. Ich habe Mörder, Gewaltverbrecher, Hochverräter und Volksschädlinge enthauptet und gehenkt, weil ich an der Rechtmäßigkeit der Todesurteile nicht zweifelte. Ich werde aber alles tun, um sicherzustellen, daß ich der letzte Reichhart gewesen bin, der sich in das Amt des Nachrichters hineindrängte. Mögen künftig die Richter die Todesurteile selber vollstrecken.“