Rezension

In der Geschichte leben oder hoffen, dass sie bald vorübergeht?

Der letzte Berliner - Yoram Kaniuk

Der letzte Berliner
von Yoram Kaniuk

Bewertet mit 5 Sternen

Eine »schonungslose Provokation« wird Yoram Kaniuks 2002 erschienenes Buch auf der Umschlagrückseite genannt: eine Charakterisierung, die meines Erachtens nicht zutrifft: Ist es eine Provokation, die Wahrheit zu schreiben? Kaniuk beschreibt Eindrücke in und von Deutschland, reflektiert über die Präsenz der Geschichte, über Erinnerung, schreibt von Begegnungen mit Menschen in Deutschland, mit Juden und Nichtjuden, skizziert prominente wie nicht prominente Personen: unter ihnen Rachel Salamander, Ignatz Bubis, Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass.

Was ist die ›Wahrheit‹ dieses glänzend geschriebenen Buchs, was zeichnet es aus? Ein Satz aus Kaniuks Aufsatz »Dreieinhalb Stunden und fünfzig Jahre mit Günter Grass in Berlin« (»Die Zeit« Nr. 26, 21.6.1991, S. 53 f.) gibt einen Hinweis auf die Antwort: »Es läßt sich nicht ändern, es gibt Leute, die in der Geschichte leben, und andere, die möchten, daß sie möglichst bald vorübergeht.« Kaniuk gehört zu der ersten Gruppe, und sein Buch gibt Zeugnis davon. »In diesem Buch geht es um Erinnerung und um das, was man aus ihr macht und wie man sie lebt«, schreibt Kaniuk gegen Ende von »Der letzte Berliner«.

In einem Nachruf auf Elisabeth Bergner in einer deutschen Zeitung liest Kaniuk, die Schauspielerin sei gezwungen gewesen, Deutschland in den 30er Jahren zu verlassen – kein Wort, warum. »Da war wieder die fehlende Wahrnehmung einer Präsenz, die aus der Abwesenheit lebte. Sogar in Peking empfindet man die Abwesenheit der Juden stärker als in Deutschland.« (S. 192) Vermutlich wird niemand in China die Abwesenheit von Juden empfinden – und doch muss man Kaniuk wohl recht geben. Was sein Buch auszeichnet, ist, dass man in allem, was er anführt und beschreibt, zugleich den Blick des Autors sieht: einen Blick, der immer wieder auch zeigt, was man selbst hätte sehen können (und insofern mag das Buch für manchen eine Provokation sein).

Yoram Kaniuk wurde 1930 in Tel Aviv geboren, 9 Monate nach einer Deutschland-Reise seiner Eltern, gemäß der Familiengeschichte »zwischen Weimar und Buchenwald« »empfangen«, den beiden Städten, die für ihn für Deutschland stehen, wie er 1996 in einem Gespräch mit Klaus Dermutz sagte (K. Dermutz: »Ich weiß wirklich nicht, wer ich bin.« Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Yoram Kaniuk, FR, 27.4.1996). Ein Onkel von Kaniuks Vater wurde in Buchenwald ermordet; der Onkel war zum Christentum übergetreten und lebte in Berlin. Kaniuks Vater, der aus Galizien stammte, in Heidelberg und Berlin gelebt hatte, blieb zeitlebens der deutschen Kultur, Literatur wie Musik, verbunden, die Yoram Kaniuk durch ihn kennenlernte. Sein Vater erzählte ihm von Berlin: von Unter den Linden, vom Hotel Kempinski. Obwohl gebürtiger Israeli, hatte er also von klein auf starke Bezüge zu Deutschland.

Kaniuk wurde im Unabhängigkeitskrieg 1948 schwer verwundet; von 1951 an lebte er zehn Jahre in den USA, war Maler, bevor er zu schreiben begann. Er war verheiratet, hatte zwei Töchter. Am 8. Juni 2013 ist Kaniuk gestorben.

Im Interview mit Dermutz sprach er von einer dreifachen »Mission«: zu schreiben, sich um »eine Lösung für das israelisch-arabische Problem« zu bemühen – mit Emil Habibi hatte er das israelisch-palästinensische Schriftsteller-Komitee gegründet –, und »der deutsch-jüdische Dialog: der Versuch, den deutschen und den jüdischen Holocaust zu einem einzigen Holocaust zu machen. Solange der Holocaust nicht zwischen Deutschen und Juden geteilt wird, wird er uns verfolgen. Ich habe mein ganzes Leben lang diesen Dialog versucht, aber er ist mir nicht geglückt.«

Kaniuk erzählt in »Der letzte Berliner« die fiktive Geschichte eines Mannes, der am 28. November 1939 dem gemeinsamen Sohn folgen und mit seiner Frau nach Palästina emigrieren will; doch seine Frau kommt nicht zum Treffpunkt und bleibt spurlos verschwunden, so dass er allein fliehen muss. Seinen Enkel lehrt er in Israel, wie Berlin zu jener Zeit aussah, er macht ihn zu einem lebenden Stadtplan des Berlin vom 29.11.1939. Der Zweck: der Enkel wird im Jahr 1999 nach Berlin reisen, mit der Aufnahme jenes Tages im Kopf, um, von da ausgehend, herauszufinden, wo seine Großmutter 60 Jahre zuvor geblieben war (vgl. S. 24–30).

Der »letzte Berliner« aus dem Titel seines Buchs ist Kaniuk selbst: er kommt mit einem Bild von der Stadt nach Berlin, das sein Vater ihm vermittelt hat – mit einem Plan aus der Vergangenheit, wie jener fiktive Enkel. Wie dieser ist er der Einzige, der die Erinnerung an das Berlin der Vergangenheit bewahrt hat. »Und wo sind die Trümmer?« fragt er Mitte der 1980er Jahre bei seinem ersten Deutschlandbesuch auf Einladung des Bundespräsidenten sein »Kindermädchen«, d. h. seine offizielle Begleiterin in Berlin. »Ein Viertel von Berlin wurde im Krieg zerstört, und ein visuelles Zeugnis ist auch eine Form der Ethik.« (S. 50) Der »letzte Berliner« erinnert auch an die Titelfigur aus Kaniuks Roman »Der letzte Jude«, der alles in seinem Gedächtnis bewahrt, was ihm seine Mithäftlinge erzählen, und dies nicht zu vergessen vermag. Kaniuk ist in gewissem Sinne mehr Berliner als die Berliner selbst: er bewahrt die Geschichte dieser Stadt (und Deutschlands) mehr als ihre Einwohner (und die nichtjüdischen Deutschen).

Als er im Sommer 1999 wieder Berlin besucht, auf den Spuren jenes fiktiven Enkels, fasst er den Plan zu diesem Buch, in dem er seine »Deutschlandreisen und die dort erlebten komischen und traurigen, bewegenden und banalen Erlebnisse« (S. 32), von denen er teils schon in anderer Form in israelischen und deutschen Zeitungen berichtet hatte, die teils aber auch noch nicht veröffentlicht wurden, zusammenfasst: »Ich wollte endlich verstehen, warum mein sterbender Vater, der niemanden von der Familie mehr erkannte, nach fünfzig Jahren in Israel mit dem Zeigefinger auf mich zeigte und Goethe zitierte, statt meinen Namen zu nennen. Und warum ich, der Sohn eines Mannes, der erst im Sterben der Deutsche wurde, der er immer sein wollte, der als lebendes Lexikon der deutschen Lyrik starb, im Geiste Goethe, Schiller und Heine im Original lese, obwohl ich Deutsch nicht lesen kann.« (Ebd.) Von der hier skizzierten biographischen Basis aus schreibt Yoram Kaniuk.

Bei allem Ernst hat das Buch auch urkomische Passagen. So etwa, wenn Kaniuk berichtet, wie er mit einer jungen Frau, Anja, im Auto in München unterwegs ist – nirgends ist ein Parkplatz zu finden, nur ein großer Platz ist völlig frei, der Parkplatz der Jüdischen Gemeinde. Aber dort dürfen nur Angestellte und Besucher ihre Autos abstellen. Es ist Samstag, Shabbat, und kein Mitglied der Gemeinde wird dort parken wollen; Kaniuk versucht, Anja davon zu überzeugen, dass sie dort ruhig hinfahren kann. Nach einigem Hin und Her fragt sie: »›Soll ich das wirklich machen?‹ Ich sagte: ›Sie sollen, schließlich bin ich Jude, oder nicht? Ich erlaube es Ihnen im Namen des jüdischen Volkes.‹« (S. 114)

Mit Michael Krüger, dem Verleger des Hanser Verlags, bei dem 1989 die deutsche Übersetzung seines Romans »Adam Hundesohn« erschien, ist Kaniuk einmal bei Jürgen Habermas zu Gast, der bei München in einem Landhaus im Wald lebt. »Als ich dieses abgelegene Haus sah, dachte ich, wie leicht es gewesen wäre, hier Juden zu verstecken. Allein im Erdgeschoss hätte man vier Juden unterbringen können. Wer hätte sie mitten im Wald gefunden? Ich sagte Habermas nichts von diesem Gedanken. Er ist nicht schuld an dem, was nicht geschehen ist.« (S. 241 f.) Der Blick auch auf das, was nicht geschehen ist und nicht geschieht, ist eines der Grundmotive des »Letzten Berliners«.

Kaniuk öffnet immer wieder den Raum zur Vergangenheit: er zeigt, was die früheren Geschehnisse für die Menschen bedeutet haben, und verbindet die Menschen damals und die Menschen heute; so erscheint die Vergangenheit als ein Raum, welcher der Gegenwart gegenübertritt, zu ihr in Beziehung steht, sich eigentlich sogar mit ihr deckt. Der Zen-Buddhismus spricht davon, ›sein Licht auf das scheinen zu lassen, was unter den Füßen ist‹; auf konkrete Geschichte hin umgedeutet, ist dies ein gutes Bild für den Bezug von Vergangenheit und Gegenwart, gerade in Deutschland. – Es geht bei allem nicht darum, aus »political correctness« unsere Verantwortung für die Vergangenheit zu bekennen, es geht schlicht um Wahrnehmung der ganzen, umfassenden Realität, um das eigene Verhältnis zur Welt – und also auch darum, was für Menschen wir sein wollen, woraus wir leben und handeln. Kaniuks hervorragendes Buch ist ein Lehrstück über eine sensible, adäquate Wahrnehmung der Realität, in der wir in Deutschland immer noch leben.