Rezension

Intensiv, mitreißend, gewaltig

Das achte Leben (Für Brilka) - Nino Haratischwili

Das achte Leben (Für Brilka)
von Nino Haratischwili

Bewertet mit 4 Sternen

Georgien, 1900: Stasia wächst in der wohlhabenden Oberschicht auf und heiratet jung den Weißgardisten Simon Jaschi, der am Vorabend der Oktoberrevultion nach Petrograd versetzt wird, weit von seiner Frau. Als Stalin an die Macht kommt, sucht Stasia mit ihren beiden Kindern Kitty und Kostja in Tbilissi Schutz bei ihrer Schwester Christine, die bekannt ist für ihre atemberaubende Schönheit. Doch als der Geheimdienstler Lawrenti Beria auf sie aufmerksam wird, hat das fatale Folgen.
Deutschland 2006: Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der UdSSR herrscht in Georgien Chaos. Niza, Stasias hochintelligente Urenkelin, ist nach Berlin ausgewandert. Als ihre zwölfjährige Nichte Brilka nach einer Reise in den Westen nicht mehr nach Georgien zurückkehren möchte, spürt Niza sie auf. Ihr wird sie die ganze Geschichte der Familie Jaschi erzählen, von acht Leben und einem roten Jahrhundert, in das sie alle eingewebt sind wie Fäden in einen Teppich.

"Das achte Leben (Für Brilka)" ist eine Empfehlung meiner Lieblingsbüchhändlerin, von der ich nur ganz selten in meinem Leseleben enttäuscht wurde. Und ich muss gestehen, dass ich mir das Buch nur anhand des Klappentextes nicht gekauft hätte. Zu viele Bücher auf dem Markt werden ähnlich angepriesen und halten dann letztlich doch nicht, was sie versprechen. Aber: Zum Glück habe ich das Buch angelesen und doch gekauft!

Ja, das Buch ist mit seinen 1279 Seiten nicht richtig handlich und oft brauche ich eine gewisse Anlaufzeit, um mit der Geschichte und seinen Figuren warm zu werden. Hier war es ganz anders. Schon von den ersten Seiten hat mich das Buch regelrecht in sich hineingezogen und gefesselt. Es ist die Art und Weise, wie die Autorin ihre Geschichte erzählt. Der Wechsel zwischen Familien- und Landesgeschichte, die Mischung aus Fakten und Erzählung. Mal erzählt sie sachlich und etwas distanzierter die Geschichte Georgiens und der UdSSR, dann wieder beschreibt sie herrlich ironisch die Eigenheiten ihrer Landsleute, um abschließend wirklich mitreißend die Geschichte der Familie Jaschi zu erzählen. 100 Jahre Familiengeschichte zwischen zwei Buchdeckel zu packen ist keine leichte Aufgabe, doch der Autorin ist es in ihrem Buch gut gelungen.

Sie erzählt die Geschichte einer Familie in mehreren Generationen. Jeder Person ist ein Buch gewidmet, doch verschiebt sich letztlich nur der Fokus jener Person innerhalb der Erzählung. Das fand ich geschickt gelöst, denn so wird habe ich mich im Lesefluss nicht unterbrochen gefühlt und konnte nahtlos an das vorherige Buch anknüpfen. Haratischwili erzählt von Träumen und Hoffnungen, verpassten Gelegenheiten und zerstörten Wünschen. Von Liebe, Freundschaft, Familie ebenso wie von Angst, Hass, Neid, Missgunst und Machtmissbrauch. Von der Ohnmacht im eigenen Leben festzustecken, vom mehr-wollen und vom träumen. Von enttäuschten Hoffnungen und starren Ansichten. Von Wandel und Erneuerung. Vom Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft.

Ein neckisches Detail ist das geheime Rezept einer heißen Schokolade, welches Stasia von ihrem Vater erbte und es an die Frauen in ihrer Familie weitergibt. Diese heiße Schokolade taucht immer wieder auf und lenkt die Geschicke der Protagonisten mal in die eine, mal in die andere Richtung, ist Fluch und Segen zugleich. Ihre Figuren sind authentisch und lebendig, es fühlte sich während des Lesens an, als kenne man die Familie persönlich. Trotz all der Euphorie vergebe ich dennoch nur vier Sterne, denn letztlich ist es mir etwas zu viel negative Dramatik in der Geschichte. So führt jede Schwangerschaft unwillkürlich zu einem Unglück und man kann den Ausgang bei der Ankündigung "Ich erwarte ein Kind" fast schon vorhersagen.
Nizas Geschichte in der Gegenwart bleibt für mich im Vergleich zu den Erzählungen der Vergangenheit dann doch relativ farblos und gehetzt. So viel man über ihre Zeit in Georgien als Jugendliche und junge Erwachsene erfährt, so rauschen ihre Jahre in Deutschland bis zum Eintreffen Brilkas regelrecht an einem vorbei. Das finde ich etwas schade, denn nach so vielen Seiten fallen auch 20 weitere nicht mehr ins Gewicht.

Trotzdem ist "Das achte Leben (Für Brilka)" ein fantastisches Buch, welches ich nur empfehlen kann.

Kommentare

gst kommentierte am 18. April 2021 um 10:40

Dass Nizas Zeit in Deutschland so an einem vorbeirauschen, ist ihrer  Abgewandtheit vom Leben in dieser Zeit geschuldet. Das konnte ich gut nachvollziehen. Und: Stell Dir mal vor, diese Zeit wäre ebenso ausführlich erzählt worden! Dann wäre der Tolstoi-Umfang noch überboten worden! Dass Du die heiße Schokolade als neckisches Detail bezeichnest, finde ich gelungen ;-).