Rezension

Jener Tag im Winter

Jener Tag im Winter - Caryl Phillips

Jener Tag im Winter
von Caryl Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

"Jener Tag im Winter" umfasst 362 Seiten und gliedert sich in gerade einmal fünf Kapitel. Diese sind natürlich entsprechend umfangreich. Ab und zu findet sich mal ein Absatz, aber größtenteils besteht das Buch aus durchgängigem Text.

Für mich ist es immer etwas Besonderes, wenn ich in einem Buch eine Seite entdecke, die keinerlei Absätze oder eingerückte Textstellen enthält, sondern von der linken oberen Ecke bis zu unteren rechten Ecke nur aus aneinandergereihten Wörtern besteht. Solche Seiten findet man in diesem Buch viele.

Geschrieben ist "Jener Tag im Winter" aus der Sicht eines allwissenden Erzählers in der Gegenwartsform. Rückblicke in die Vergangenheit sind in der entsprechenden Zeitform geschrieben.

Das Original erschien unter dem Titel "In the Falling Snow" beim Verlag Harvill Secker, London.

Sehr schön und auch passend zum Inhalt finde ich das Cover des Buches.

Meine Meinung zum Buch:
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"Jener Tag im Winter" ist mein erster Phillips. Nach Lesen der Autorenbeschreibung habe ich mich gewundert, dass ich bislang noch nichts von dem Autor gehört habe. Nach Lesen des Buches steht fest, dass sich das ändern muss.

Caryl Phillips ist ein Autor, der sein Handwerk versteht. Ich habe beim Lesen seines Buches viel Freude gehabt und das Buch innerhalb kürzester Zeit ausgelesen. Und das, obwohl der Stil von Phillips durchaus als anspruchsvoll zu bezeichnen ist. Dabei ist es nicht mal mehr seine Ausdrucksweise, die mir diesen Eindruck verschafft, sondern seine Art, die Handlung voranzutreiben. Phillips wechselt ständig die Erzählebene. Befanden wir uns eben noch in der Gegenwart, wechseln wir auf einmal in die Vergangenheit. Und dies so plötzlich und unvermittelt, dass ich es oft erst nach einigen Zeilen bemerkt habe. Denn Phillips erachtet es nicht als nötig, zusammen mit der Erzählebene auch die Zeile zu wechseln. Im Gegenteil, er reiht munter Wort an Wort und allein dadurch, dass sich die Zeitform der Verben wechselt, merken wir, dass wir uns nicht mehr in der Gegenwart befinden. Hier mal ein Beispiel, damit ihr eine ungefähre Vorstellung davon bekommt:

"Willst du noch etwas bleiben", fragt er. "Ich muss morgen wieder früh raus", antwortete sie.

Das Beispiel findet sich so nicht im Buch, aber es verdeutlicht, wie die Gespräche zwischen den Personen ungefähr ablaufen.

Diese Erzählweise passt aber perfekt zur Handlung und zum Hauptcharakter des Buches. Denn Keith Gordon ist ein Charakter, dessen Gedanken ständig in die Vergangenheit abschweifen. Ob er nun auf der Straße läuft, im Bus sitzt oder in einer Kneipe: Die Erinnerungen an seine Kindheit oder sein Leben mit seiner Ex-Frau drohen stets, ihn zu überwältigen. Er wird von diesen Erinnerungen so sehr beherrscht, dass er gar nicht anders kann, als ihnen in sein früheres Leben zu folgen. Und der Leser wiederum folgt Keith, wird zu seinem ständigen Begleiter.

Das Leben von Keith wird so eindringlich beschrieben, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn sympathisch zu finden. Es ist nicht so, dass er mir sonderlich Anlass geben würde, anders für ihn zu empfinden. Aber dem Autor gelingt es spielend und leicht, seinen Hauptcharakter ins rechte Licht zu rücken. Keiths Leben und Schicksal interessiert mich einfach. Ich möchte wissen, was er für eine Vergangenheit hat und wie sein zukünftiges Leben aussehen wird.

Und all diese Fragen beantwortet mir der Autor. Auch wenn das Ende zu einem großen Teil offen bleibt, bin ich doch zufrieden mit den Lösungen, die Phillips mir anbietet, und kann Keith nun ganz beruhigt wieder alleine mit sich und seinem Leben lassen.

Der Schreibstil des Autors ist sehr feinfühlig. Und trotz einiger Kraftausdrücke ist das Buch ein leises Buch. Es macht nachdenklich und hat mich sehr bewegt. Dabei drückt Phillips gar nicht auf die Tränendrüse, sondern schreibt im Gegenteil sehr sachlich und nüchtern. Aber ich konnte mich so sehr in Keith hineindenken, dass ich großen Anteil an den Dingen, die ihm widerfahren, genommen habe.

Und Keith hat es nicht gerade leicht. Das Buch beginnt mit der im Klappentext beschriebenen Szene: Keith trennt sich von seiner Geliebten. Eigentlich nichts besonderes - Trennungen geschehen täglich. Doch Yvette lässt sich nicht so einfach abservieren und so weiß am nächsten Morgen jeder in der Firma, in der beide arbeiten, über ihr Verhältnis Bescheid, und am nächsten Tag kursiert die Geschichte im Internet. Während Keith daran zunächst nichts Schlimmes entdecken kann, ändert er seine Meinung doch schnell, als klar wird, dass Yvette die Tatsachen verdreht und Keith der sexuellen Belästigung beschuldigt.

Und damit nehmen die Probleme von Keith erst ihren Lauf. Es folgen Probleme mit seinem Sohn, seinem Vater, seiner Ex-Frau und einer polnischen Studentin. Doch dazu verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht mehr - lest am besten selbst!

Am Ende ziehe ich in meiner Bewertung einen Stern dafür ab, dass der Stil des Autors eben doch anspruchsvoll ist und sich gerade die Stellen, an denen sich keine Absätze finden, sehr in die Länge ziehen.