Rezension

Kathedralen - eine Streitschrift

Kathedralen -

Kathedralen
von Claudia Pineiro

Bewertet mit 4 Sternen

Die 1960 geborene Argentinierin Claudia Pineiro nimmt sich in ihrem Roman, der vor der Gesetzesänderung 2020 verfasst und von Peter Kultzen aus dem Spanischen übersetzt wurde, das reichlich umstrittene argentinische Abtreibungsgesetz zum Thema. Der Einfluss der katholischen Kirche in diesem Land war und ist groß, die Menschen beugen sich und hoffen, oder sie brechen aus.

Bei Pineiro ist es die Familie Sarda, mit ihren drei Töchtern, der strenggläubigen Mutter Dolores und dem liberaleren Vater Alfredo, die zerbricht, als die 17jährige Ana ermordet wird. Für ihre ältere Schwester Lia war es der Zeitpunkt, endgültig dem Glauben und der Familie den Rücken zu kehren. Alsbald zieht sie von Buenos Aires nach Santiago de Compostela in Spanien. 30 Jahre sind seitdem vergangen und Lia hält nur brieflichen Kontakt mit ihrem Vater, in dem sie sich aber jegliche familiäre Auskünfte verbittet.
Trotzdem steht eines Tages die älteste Schwester Carmen bei ihr im Geschäft und bittet sie um Hilfe bei der Suche nach ihrem Sohn Mateo, der sich in Europa aufhielt, ja sogar bei ihr im Laden mit seiner Kreditkarte etwas gekauft hat, sich jetzt aber nicht mehr melde.

Aus dieser Zeitperspektive rollt Pineiro die Familiengeschichte wieder auf und lässt die verschiedenen Protagonisten in ihren eigenen Kapiteln zu Wort kommen, angefangen mit Lia über Mateo, dem "verlorenen Sohn", einem polizeilichen Ermittler und der besten Freundin der Verstorbenen, Marcela. Marcela erlitt am Tag des Todes ihrer Freundin eine retrograde Amnesie und fiel daher als wichtige Zeugin der Umstände aus. Doch jetzt hören ihr zwei Männer genauer zu. Der vermeintliche Mörder wurde nie gefunden.

Die Erzählstränge entwickeln einen spannenden Sog und obwohl schnell deutlich wird, was passiert ist, möchte man die Kathedralen, die sich die Familienmitglieder aufgebaut haben, weiter erkunden. Der Schleier des Krimis ist schnell zerrissen und zum Vorschein kommen konstruierte Wahrheiten, die ein wackeliges Gerüst über schwarze Abgründe bilden.

Man erahnt die Wut über die menschenverachtende Gesetzgebung, unterstützt von den Dogmen der Kirche, die die Autorin beim Schreiben gehabt haben muss. Ausdruck findet sie in einem splattermäßigen Ausbruch, der aber zum Glück nicht den Roman beherrscht. Dafür spiegelt sich das Thema, dass sie umtreibt in vielen Manifestationen wieder, so zum Beispiel die Erkundung der Kathedralen in Europa und dem kirchlichen Umfeld der Familienmitglieder. Ein wenig Schwarz-Weiß-Malerei könnte man dem Roman vorwerfen, doch ist die Zeichnung mit dieser Farbwahl nur um so deutlicher und das Ausmaß der Bigotterie unzweifelhaft. Das Buch kam in Argentinien vielleicht zur rechten Zeit, um ein Umdenken für die Gesetzesänderung zu unterstützen. Das mag für die deutsche Ausgabe keine Rolle spielen, wirft aber ein Schlaglicht auf die jüngste Vergangenheit Argentiniens. In diesem Sinne habe ich die recht spannende Anklage gern gelesen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 26. Februar 2023 um 23:53

Historische Einordnung spielt immer eine Rolle! Well done.