Rezension

Kleines Einmaleins der Russlandkunde

Eine Geschichte Russlands -

Eine Geschichte Russlands
von Orlando Figes

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Angenehm zu lesen.

Während der Lektüre von Orlando Figes kam mir des Öfteren der Klassiker von Heinrich Mann „Der Untertan“ in den Sinn. Warum nur? „Patriotismus, Kollektivismus und Unterwerfung sind die traditionellen Werte Russlands“, sagt Putin 1999. Und er meint es so. 

Russland ist ein Land mit einer vielfältigen und wechselhaften Geschichte. Sie ist nicht weniger gewalttätig als die vieler anderer Länder. Doch zeichnet sie sich dadurch aus, dass das große Land bis heute fast durchgängig diktatorisch- autokratisch regiert wurde. Der Kommunismus, der das Land erschütterte, hat die diktatorischen Strukturen nicht abgeschüttelt, im Gegenteil! Lenin, vor allem aber Stalin herrschten als Vorsitzende eines Einparteienstaats mit genauso harter Hand wie einst Russlands Zaren, sogar noch gewaltsamer, noch willkürlicher, von Paranoia gesteuert. 

Bis heute hat es sich gehalten, dass in Russland nicht der Staat die Bürger schützt, sondern die Bürger den Staat (In Kriegen wird auf Quantität gesetzt; rücksichtsloser Menschenverschleiß), das heißt dann: die große Opferbereitschaft Russlands und wird entsprechend hochgehängt. Patriotismus und Volkstum ist gesetzt. Antisemitismus und Xenophobie werden systematisch geschürt, ein freies Russland hat es nie gegeben. Der Glaube daran, dass ein Regent sakrosankt ist, gehört zu den traditionellen Werten, die Väterchen Putin wieder hochhält. „Kein anderes Land der Welt hat aus den eigenen Herrschern so viele Heilige fabriziert. In keinem anderen ist Macht so stark sakralisiert worden“, schreibt Figes. Ein weiteres Zitat: „Das System der Abhängigkeit vom Herrscher hat sich bis heute gehalten. Putins Oligarchen sind völlig von seinem Willen abhängig.“ 

Orlando Figes holt weit aus, geht zurück bis in die Anfänge der Kiewer Rus und durchläuft sämtliche nennenswerten Regenten. Um „Eine Geschichte Russlands“ zu lesen, braucht es also ein echtes Interesse für Geschichte. Wenn man dies aufbringt, bekommt man einen Schnellkursus in russischer Geschichte, deren Stoff in Deutschlands Schulen mehr als unterbelichtet ist. Von Peter dem Großen und Katharina der Großen hat man schon einmal etwas gehört, aber auch nichts Genaues und dann verließen sie ihn. Wenn, wie Wikipedia kundtut Stefan Plaggenborg (ein anderer Historiker) meint, Figes „habe sich verhoben bei dem Versuch, aus tausend Jahren russischer Geschichte heutige Verhältnisse zu erhellen“, will ich dem widersprechen. 

„Eine Geschichte Russlands“ mag dem wissenschaftlichen Standard, den man für die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift anlegt, nicht entsprechen, doch es ist ja ein Sachbuch für Laien. Dankenswerterweise hat Figes auch auf die von der Wissenschaft so geliebten Schachtelsätze mit vor- und nachgeschobenen Einschüben vor jedem Substantiv verzichtet, so dass man Figes Sätze nicht entzippen muss wie die seiner Kollegen. Dass dabei trotzdem ein hochwertiges Werk herausgekommen ist, zeigt, dass man sehr wohl für den Laien niveauvoll schreiben kann. Mut zur Lücke ist dabei natürlich unerlässlich. Inhaltlich ist „Eine Geschichte Russlands“ gestrafft; so bleibt sie übersichtlich. 

Russland sah und sieht sich als hehrer Wächter einzigartiger Ideale, „Russland als Wächter, der Europa vor den „asiatischen Horden“ beschützt, wurde seit dem 17. Jahrhundert Bestandteil des nationalen Mythos.“ „Der Kommunismus verlieh dem Land eine neue messianische Rolle“. 

Figes beschreibt die Leibeigenschaft der Bauern genauso wie ihre Auslieferung unter spätere kommunistische Behörden; ein Beamter ist nicht dem Volk gegenüber verantwortlich, sondern nur seinem Vorgesetzten gegenüber verpflichtet. Deshalb gibt es keine Rücktritte von Verantwortungsträgern. Misswirtschaft und Zwangskollektivierung führten zu grauenhaften Hungersnöten. 

Die Rolle der Orthodoxie wird beleuchtet, die sich unkritisch unter die Staatspolitik beugt („Im Mythos von der russischen Seele steckt ein messianisches Konzept“); das unmenschliche System der Kollektivschuld wie auch die Besiedlung Russlands Norden fast ausschließlich durch den Gulag (Zwangslager, Zwangsarbeit, Zwangsumsiedlungen), in den verschleppt wird, wer ethnisch nicht passt oder sonst wie auffällt, jetzt zum Beispiel sind es Tausende von ukrainischen Bürgern und ihre Kinder) und vieles mehr, zeigt Figes auf. 

Systematische Desinformation und Geschichtsverfälschungen führen dazu, dass die Bürger eines Landes, an dessen Grenzen seit mehr als 30 Jahren keiner mehr Hand anlegte, sich in einem Verteidigungskampf zu befinden glauben. Der letzte Bogen bis in die Neuzeit ist ein bisschen kurz und besorgt. Aber wer kann schon in die Zukunft sehen? Immerhin wagt Figes einen Ausblick und gibt eine Beurteilung ab: 

„Es ist ein unnötiger Krieg, geboren aus Mythen und Putins verdrehter Deutung seiner Landesgeschichte. Wenn er nicht bald beendet wird, wird er das Beste in Russland zerstören.“ 

Fazit: Unerlässliche Faktenkunde. 

Kategorie: Sachbuch. Geschichte.
Verlag: Klett-Cotta, 2022

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 04. Februar 2023 um 10:20

Ah, danke für die Rezi! Denis Scheck hatte das Buch in "Druckfrisch" vor einiger Zeit auch sehr gelobt. .-  „Patriotismus, Kollektivismus und Unterwerfung sind die traditionellen Werte Russlands“: Brrrrrrrrr...

wandagreen kommentierte am 04. Februar 2023 um 11:32

Jawoll - und sie wollen diese wunderbaren Werte möglichst über den ganzen Erdball streuen! Dazu kommen noch Gewaltakzeptanz als legitimes politisches Mittel - natürlich von Regierungsseite aus -, eine gewaltige Portion Antisemitismus, Homosexuellenfeindlichkeit und Frauenhass. Ein entzückendes Land. Aber davon gibts ja mehrere! Ganz so einzigartig wie es denkt, ist Russland (leider) nicht.