Rezension

Konflikt eines Neunjährigen (2001 erschienen)

Ich habe keine Angst -

Ich habe keine Angst
von Niccolò Ammaniti

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die Kinder von Acqua Traverse bilden eine eingeschworene Gemeinschaft unter Führung von „Totenkopf“ Antonio Natale; denn der Ort besteht aus nur fünf Häusern. Im brütend heißen Sommer 1978 muss der neunjährige Michele seine kleine Schwester Maria beaufsichtigen. Aber welche Mutproben mit der Clique kann ein Junge bestehen mit einer Fünfjährigen im Schlepptau, die unbedingt bei allem dabei sein will? Nur wegen Maria verliert Michele den Wettbewerb, nur wegen ihr muss er zur Strafe in ein entlegenes Haus einsteigen – und findet dabei einen gleichaltrigen Jungen, offensichtlich schon länger angekettet in einem abgedeckten Erdloch. Michele will dem traumatisierten Jungen helfen, doch an wen könnte er sich in seinem winzigen Kosmos wenden? Er und Maria sind streng und mit körperlicher Gewalt erzogen worden, u. a. mit der Mär, dass nachts draußen ein Schwarzer Mann sein Unwesen treibt. Die Welt außerhalb des Dorfes kennt nur der Vater, der als LKW-Fahrer regelmäßig in „den Norden“ fährt, wo die Menschen weniger arm sein sollen. Je stärker die Zeit drängt, um so stärker wachsen Micheles Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Erwachsenen. Der Schwarze Mann hält sie offenbar nicht davon ab, nachts draußen unterwegs zu sein und sich bei seinen Eltern zu treffen. Ausgerechnet Vaters Kumpel Sergio, der unheimlichste Besucher, soll mit Michele zusammen in dessen Zimmer schlafen!

Aus der Distanz von über 20 Jahren beschreibt Ammanitis Icherzähler einen Konflikt seiner Kindheit, konsequent aus der Perspektive des Neunjährigen, der allein ein Problem lösen muss und den Erwachsenen nicht trauen kann. Zu Micheles Kosmos gehören archaische Rollenbilder, die der 11-jährigen Barbara den einzig denkbaren Platz zuweisen, die Gewalt dulden und in der allein heterosexuelle Personen „ein Mann“ sein können. Ammanitis erwachsenen Leser:innen fallen die Widersprüche natürlich eher auf als dem Jungen; der Abstand zwischen Micheles Beobachtungen und seinem allmählichen Verstehen sorgt für Spannung.

Den in jeder Hinsicht engen Kosmos eines Neunjährigen beschreibt Ammaniti anschaulich und konsequent aus dessen Perspektive, nicht immer linear und damit sehr glaubwürdig. Durch Konzentration auf den winzigen Weiler und die moralischen Fragen, denen Michele sich gegenüber sieht, eine ideale Klassen- oder Literaturkreis-Lektüre. (zuerst erschienen ital. 2001, dt. 2004)