Rezension

Kryptisch, lyrisch, anregend: Eine Erzählung vieler Arten von Schuld und Vergebung!

Melmoth - Sarah Perry

Melmoth
von Sarah Perry

Bewertet mit 3 Sternen

Inhaltserzählung: "Hat deine Mutter dich nie auf den Schoß genommen und dir erzählt, Melmoth beobachte dich? Also", sagte er, "wie du sicher aus der Bibel weißt, gingen die Frauen zu Jesu Grab und fanden es leer vor. Der Stein war beiseitegerollt, und dort in dem Garten erschien ihnen der wiederauferstandene Sohn Gottes. Doch eine war dabei, die später leugnete, den auferstandenen Christus gesehen zu haben. Zur Strafe wurde sie verflucht, bis zur Rückkehr des Messias einsam und heimatlos über die Erde zu streifen. In einer Welt, die unvergleichlich böse ist und unvorstellbar niederträchtig, hält sie immerzu Ausschau. Sie stellt sich als Zeugin zur Verfügung, wo es keine Zeugen gibt, um eines Tages erlöst zu werden. Wenigstens will es die Legende so und die Frau trägt viele namen: Melmoth die Zeugin, Melmotte oder auch Melmotka - je, nachdem, wo man geboren ist. Aber eines darfst du nie vergessen: Sie ist einsam. Ihre Einsamkeit ist uferlos udn wird erst enden, wenn die Welt untergeht und Melmoth Vergebung erfährt. Sie erscheint den Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens, und nur die Erwählten spüren ihren Blick. Sie heben den Kopf, und plötzlich steht die Zeugin vor ihnen. Angeblich streckt sie dann die Arme aus und sagt: Nimm meine Hand! Ich war so einsam!" (Lehrer Schröder zu Josef Hoffmann, Seite 51/52)

Bewertung:
Das Cover ist unheimlich toll mysteriös und auch unheimlich gestaltet. Nichts mit Frau und/oder schwarz ... Wow! Es wirkt total poetisches auf mich und erinnert mich an Jugendromane, die in dem Stil gestaltet sind. Dazu der mysteriöse Titel ... besser geht es für mich nicht! Wenn ich Coverkäuferin wäre, würde ich das Buch im Buchladen sofort zur Kasse tragen. Erst im Laufe der Erzählung wirken die Federn auf dem Cover mehr als brillant!

Ich konnte den Klappentext nicht wirklich einordnen und bin deshalb auch ganz offen an die Geschichte rangegangen. Ihr Werk „Die Schlange von Essex“ hat auch wie dieses hier ein atemberaubendes Cover, jedoch konnte mich der Klappentext - anders als hier - nicht ansprechen. Das war ein weiterer Grund, weshalb ich ohne Vorbehalte und Erwartungen an das Buch gegangen bin. Ich habe schon vor der Leseprobe von der Legende Melmoth gelesen - die Frau in Schwarz. Ich war also sehr neugierig, was das Buch zu bieten hat ...

"Das Leben ist manchmal eben komplizierter als gewünscht; das Beste ist es, in Würde weiterzumachen."
(Namenlos zu Hassan, Seite 284)

Die Autorin erklärt in einem Video (https://www.youtube.com/watch?v=UbF_aUt176E), wie aus Melmoth, der Wanderer hier Melmoth, die Zeugin wird. Das Video war für mich sehr wichtig, um das Konzept des Buches zu verstehen. Denn die aufgelisteten Primärquellen im Buch konnte ich größtenteils nicht im Internet nachrecherchieren. Bis auf "Melmoth, der Wanderer" von C. R. Martin und "Der Schimmelreiter" von Theodor Sturm lässt sich die Recherche der Autroin nicht zurückverfolgen. Somit muss ich einfach darauf vertrauen, dass das echte Quellen sind. Ich finde es sehr schade, da ich sehr gerne mehr über diese Quellen erfahren würde ... Es werden sieben Quellen zu Melmoths Erscheinen aufgeführt, von denen einige in der Erzählung bearbeitet werden.

"Manchmal habe ich das Gefühl, dass es sie noch unglücklicher macht, beobachtet zu werden. Ich frage mich, ob sich ein Schmerz dadurch verstärkt, dass jemand zuschaut."
"Nun ja (...), nur Kinder glauben, etwas würde unsichtbar, bloß weil man die Augen schließt."
(Helen Franklin und Arnel Suarez, Seite 244)

Es geht spannend los mit einem Brief. Auch ist in dem Buch am Anfang ein Zitat vermerkt- das liebe ich ja! Der Schreibstil ist sehr lyrisch, manchmal poetisch, was sehr schön ist. Leider - ein sehr großes Leider - hat die Autorin die Erzählung zusätzlich noch kryptisch geschrieben, sodass es für mich sehr anstrengend zu lesen war.

Ich bin bis zum Ende etwas irritiert worden; mal ist die Erzählung allgemein gehalten über die Charaktere, dann wieder an jemanden gerichtet; es wird dann die Ansprache Sie verwendet. Nur wer ist damit gemeint? Wir Leser? Und wer ist dann der Erzähler? Das springt zwischen den beiden Erzählarten hin und her.

Sie war ein denkendes Wesen und hatte einen freien Willen. Keine Hand hielt sie zurück als die eigene, sie hatte keine andere Aufgabe, als Mitgefühl zu empfinden und das Richtige zu tun, und sei es nur ein einziges Mal, hier in diesem kleinen, stickigen Zimmer.
(Erzählung über Helen Franklin, Seite 247)

Das Manuskript von Josef Hoffmann liest sich ebenso mysteriös. Alleine seine Kindheit wird sehr zerstreut geschrieben. Josef erzählt über den Hass zu Franz und die Liebe zu seiner Schwester Freddie nach der ersten Begegnung!!! Klar, er trägt sehr viel Wut und Kummer in sich, das ist sehr deutlich zu spüren, aber ich verstehe hier nicht, wieso genau. Er schreibt über sein Leben Zuhause sehr schwammig, sodass ich seine Empfindungen nicht ganz nachvollziehen kann und der Zugang zu ihm schwer ist. Der Tod von Josef Hoffmanns Vater war ja grausam. Skurril finde ich hier Josefs Handlung; er setzt sich einfach an den Tisch zu seinem toten und blutenden Vater - ohne Mucks und Gefühl. Es wird gar nichts dazu geschrieben. Dann kommt auch die Mutter nach Hause und setzt sich dazu, als ob gar nichts wäre und da kein blutend toter Mensch auf dem Tisch liegt. Wie realitätsfern ist das bitte???

Karel ist aus Prag einfach nach England gegangen und nun hat Melmoth plötzlich keine Bedeutung mehr für ihn... Einfach nur merkwürdig, gefällt mir nicht, diese Abhandlung mit ihm. Er verschwindet einfach und taucht nicht wieder auf.

»Was arbeiten Sie?«
»Ich bin Übersetzerin, obwohl mein Deutsch besser ist als
mein Tschechisch.«
»Wundervoll! Womit beschäftigen Sie sich gerade? Mit
Schiller? Peter Stamm? Einer neuen Sebald-Ausgabe?«
»Mit einer Gebrauchsanweisung für Elektrowerkzeuge
von Bosch.«
(Seite 26)

Was mir in Helens Erinnerung auffällt, ist, dass Helen Melmoth doch schon damals im Krankenhaus bei einer Patientin gesehen hat, tut aber in der Gegenwart so, als ob sie sie überhaupt nicht kennt. Und wenn sie einen Gedächtsnisschwund bei der Sache hat, wie kann sie den anderen dann ihr Fehlverhalten erzählen? Für mich ist das dermaßen unlogisch, dass es mich nervt. Und Hassan (ein weiterer Sünder)? Der jammert die ganze Zeit nur "Ich habe nichts getan, nichts!", das hat mich dermaßen genervt, dem hätte ich am liebsten eine geknallt, damit er zu sich kommt. Wie ein kleines Kind ... Und was ist das für ein Ende mit ihm? Auch total unlogisch; er steigt jammernd ins Meer und puff - er ist verschwunden/tot ... Namenloses (sein Bruder) Ende ist da das Gegenstück von Unlogik und herzzerreißend. Der Tod der Albina (Mitbewohnerin von Helen) ist auch recht merkwürdig und so gar nicht schlüssig für mich - ist wirklich wie eine dramatische Oper, auch völlig überzogen. Zieht das weiße hochzeitsähnliche Kleid an, geht in die dramatische Oper zum Sterben ...

"Madam, wenn ich fragen darf ... Woran ist sie gestorben?"
"Am Leben, so wie alle Menschen."
(Arnel Suarez und Thea, Seite 327)

Es tauchen auch Szenen auf, bei denen ich nur den Kopf schüttele; es erscheinen die Toten Helen in ihrem Zimmer - ernsthaft? Neben Melmoth war die Geschichte bis dahin noch realistisch, aber ab hier wird es echt etwas lachhaft übertrieben. Es bleiben auch Fragen offen, die nicht geklärt wurden, leider.

Insgesamt hat mir das letzte Drittel des Buches am allerbesten gefallen, weil er nicht so dermaßen kryptisch geschrieben ist und ich so gut wie alles verstanden habe. Dabei blieb aber auch nicht die lyrische Erzählweise aus.  Ich hatte es sehr schnell durchgelesen, weil es mich gefesselt hat, was Helen so mit sich herumträgt. Das Wiedersehen mit einem alten Freund von Helen hätte ich mir viel ausgeschriebener gewünscht, mit mehr Raum für ihn. Das finde ich schade, da ich ihn sehr mag und er viel zu erzählen hätte. Das Ende ist offen gehalten, was aber nicht schlimm ist. Toll finde ich das Gesamtende, bei dem der Erzähler uns Leser persönlich anspricht. Erst hier wurde für mich auch klar, dass die zwischendurch Anreden mit Sie an uns gilt - was mir ja seit dem ersten Abschnitt Fragezeichen bereitete. Denn während der Erzählung springt der Erzähler zwischen der Anrede zu uns mit Sie zu einer normalen Erzählung hin und her.

"Ich möchte es etwas Gutes tun", sagte sie. "Wenn du Benjie das nächste Mal besuchst, werde ich einer Patientin Gesellschaft leisten. Sie heißt Rosa und hat niemanden sonst."
"Wenn sie dich hat", sagte Arnel, "hat sie alles."
(Helen Franklin zu Arnel Suarez, Seite 236/237)

Ich fand alle Rückblende der vorkommenden Personen wichtig, um noch mal ein anderes Verständnis von Schuld zu bekommen. Ungewöhnlich ist, dass die Autorin verschiedene Aspekte von Schuld und Vergebung in dem Buch bearbeitet ... mal ist es eine einzelne Tat, dann wieder Massenmord - in diesem Fall sogar den Genozid der Armenier. Das hat mich überaus positiv überrascht, und ich finde es super, dass das mal von einer Autorin aufgegriffen wurde! Es gibt viele Wege, sich schuldig zu machen, wie auch zu vergeben.

(...) "denn obgleich jedes Blatt von jedem Baum wahrhaft ein Buch ist, enthält die Erde für jene, denen es an Verständnis mangelt, keine Blätter. Der Kampf des Verstandes ist der Krieg, den man nie gewinnen kann."
(Altan Sakir (zitiert im ersten Teil aus dem Diwan von Necati) zu Namenlos und Hassan, Seite 280)

Einige Wörter kannte ich nicht und musste ich nachschlagen, was mir aber gefällt, ich lerne gerne neues dazu:

Seite 30, Zeile 9 von oben; dergestellt - derart, so, auf diese Weise

Seite 49, Zeile 2 von unten; allenthalben - überall (hier; begegnete ich überall ...)

Die ganze Erzählatmosphäre kam mir eher vor als befänden wir uns im frühen 20. Jahrhundert. Zeitmäßig bin ich auch nicht klar im Kopf gewesen - mal dachte ich, wir hätten das frühe 20. Jahrhundert, dann wieder befänden wir uns in den 50ern. Besonders Helens Verhalten und Sitte hat für mich gar nichts mit den Jahren nach 1970 zu tun, obwohl sie in dieser Zeit geboren wurde.

"Hast du nie erfahren, wie es ist, so einsam zu sein? Ich bin die einzige Überlebende einer Schiffskatastrophe und treibe auf einem Meer, das keine Gezeiten kennt. Ich bin ein einsamer Stern zwischen ausgebrannten Galaxien. Wer antwortet mir, wenn ich die Stimme erhebe?
(Melmoth zu Josef Hoffmann, Seite 175)

 

Fazit:
Ich schwanke ja innerlich; mal ist Melmoth für mich der Gedanke im Kopf und manifestiert sich in der Sünde in einem, mal ist sie dann wieder eine lebendige Person, die ruhelos durch die Gegend zieht ... ich kann mir hier keine klare Meinung dazu bilden. Aber für mich kommt die Botschaft des Schuldvergehens und die Sehnsucht nach Vergebung deutlich rüber. Das Besondere am Buch ist, dass jeder meiner Lesekameraden etwas anderes aus dem Buch zieht - ich denke, das ist eines der vielen Intensionen der Autorin.

"Ich wüsste immer nur eines: Ich bin das Gesetz, und das Gesetz hat immer recht. Aber jetzt frage ich mich, ob es sein könnte, dass es das eine gibt, was recht ist, und das andere, was gut ist, und die beiden sind nicht dasselbe."
(Wachtmeister Novák, Seite 149)

Ich denke, dass das Buch es schwer haben wird, Liebhaber zu finden. Aber dafür ist es auch einfach viel zu kryptisch geschrieben. Ich selbst hatte Probleme damit und habe nicht alles an der Erzählung verstanden. Lyrische Poesie ist sehr schön, aber die kryptische dazu ist hier in meinen Augen einfach zu viel! Schon die lyrische Erzählart wird viele abschrecken ... Nur das letzte Drittel ist weniger kryptisch geschrieben und ich konnte soweit dann auch alles verstehen. Hier hat es sich die Autorin sich mit der Doppelbesetzung selbst schwer gemacht.

Die Atmosphäre ist meistens sehr unheimlich, gar gruselig. Ich habe es fast durchgehend abends im Bett gelesen, was mich intensiver über die Quellen nachdenken ließ, die in der Erzählung auftauchen. Das Buch kann ich nur Lesern empfehlen, die sich konzentrieren können, sich an lyrisch-kryptischer Sprache erfreuen und nichts gegen mysteriösen Grusel haben. Das Buch ist somit nicht für jeden Leser lesenswert und verständlich. Die Erzählung hat aber eine enorme Ausdruckskraft und hallt nach. Ein besonderes Buch, das mit Wegfall der Kryptologie verständlicher wäre. Man kommt nicht drum herum, sich die Frage zu stellen: Was will das Buch mir mitteilen? Es geht um Schuld und Vergebung. Wer was aus der Erzählung für sich mitnimmt, ist individuell. Einig waren meine Lesekameraden und ich uns aber in einer Sache zum Fazit: Alles hat seine Konsequenzen. Taten und Nichttaten.

"Wir sind ganz allein, deswegen müssen wir tun, was Melmoth tun würde: Wir müssen hinsehen und bezeugen, was nicht in Vergessenheit geraten darf.
(Karel Pražan zu Thea, Seite 191)

 

Ich bedanke mich innigst beim Lesejury-Team und dem Verlag für die anregende Leserunde! Es ist eine Weile her, dass ich so ein besonderes Werk gelesen habe.