Rezension

Lesenswert

Solange wir schwimmen -

Solange wir schwimmen
von Julie Otsuka

Bewertet mit 5 Sternen

Eine einzige große Metapher

Auf Julie Otsukas Roman 'Solange wir schwimmen' bin ich durch einen WDR-Beitrag (Westermann) aufmerksam geworden. Das Thema, alles, was mit dem Älterwerden, Beziehungen (Mutter-Tochter) zu tun hat, interessiert mich. Das überschaubare Buch von 152 Seiten lässt sich gut in einem Rutsch lesen. Die Strukturierung in fünf Kapitel – Das Schwimmbad, der Riss, Diem perdidi, Belavista (es sei ihr die orthographische Verunstaltung verziehen (Bellavista-schöner Ausblick, nur ganz wenige Hotels verunstalten die Schreibweise), EuroNeuro gefällt mir, spiegelt unterschiedliche Perspektiven, Phasen wieder. Die Titel, v.a. der letzten drei Abschnitte, erklären sich zu Ende des Kapitels.

Eine der beiden Protagonistinnen des Buches ist Alice, eine pensionierte Labortechnikerin, die an einer frontotemporalen Demenz (FTD) leidet und deren allmählichem Verfall wir Leser beiwohnen. Am Anfang des Romans kann sie noch schwimmen gehen 'Aber hier unten im Schwimmbad bin ich ich selbst' (7). 'Und obwohl sie sich an nichts erinnert, wenn sie zu ihrem Leben oben zurückkehrt, fühlt sie sich für den Rest des Tages beschwingt und lebendig, als hätte sie eine große Reise gemacht' (24). 'Ganz allmählich beginnt sie zu verschwinden'(134). 'Du hast den Klang ihrer Stimme seit nun fast zwei Jahren nicht mehr gehört' (146). Im Schwimmbad herrscht eine fühlbare Gemeinschaft, sprachlich verdeutlicht durch das ständige Wiederholen von 'Einige von UNS'. 'Denn jetzt angesichts unseres gemeinsamen Endes sind wir alle gleich'(60). In 'Diem perdidi' (verlorener Tag) stellt Otsukas gekonnt erzählerisch ein noch funktionierendes Langzeitgedächtnis dem maroden Kurzzeitgedächtnis gegenüber, aber auch ersteres löst sich allmählich auf. Am Anfang des Kapitels weiß Alice noch, wie der Hund des Präsidenten heißt, am Ende des Kapitels schon nicht mehr. Im Kapitel 'Belavista' erfahren wir, aufgrund welcher Kriterien diese Form von Demenz eigentlich diagnostiziert wird (50 Millionen Betroffene weltweit). Wem vorher schon vor einem Dasein in einem Pflegeheim gegruselt hat, der will spätestens jetzt dort niemals untergebracht sein. 'Sie werden aufwachen, wenn wir entscheiden, dass Sie aufwachen sollen. Sie werden schlafen,wenn wir Sie ins Bett bringen und das Licht ausmachen (…). Falls Sie den Anweisungen nicht folgen, müssen wir Ihnen unter Umständen eine Tablette verabreichen(90)'. 'Kognitive Talfahrt' (113), ein schöner Begriff. Man merkt Otsuka auch den Besuch von 'Creative Writing'-Veranstaltungen an. Sie beherrscht 'show, don't tell', wenn es z.B. um die Symptome von Demenz geht 'Ihre Haare waren zerzaust und ihre Hose auf links gedreht (24)'. Kapitel zwei, das vierunddreißig-seitige Gerede und Beschreiben des Risses im Schwimmbad ist mir ehrlich gesagt 'too much', zu langatmig, zu detailliert. Mit Recht plagt Alices Tochter das schlechte Gewissen 'Du hast deine Mutter in all den Jahren ,in denen du weg warst, kein einziges Mal zu dir eingeladen. Du hast ihr nie geschrieben. Du hast sie nie angerufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Du bist nie mit ihr nach Paris oder Venedig oder Rom gefahren, an all die Orte, von denen sie immer geträumt hatte (126)'. Doch nun ist es zu spät – verpasste Chancen – diem perdidi. Der ganze Roman ist eigentlich eine dicke, fette Metapher, das Schwimmbad, das Leben, der Riss, die Demenz durchzogen von Schrecken, Selbstzweifeln und Schuldgefühlen der Erzählerin. Typisch und einprägsam für Otsunka scheinen die sich ständig wiederholenden Satzanfänge wie 'Du versuchst zu...', 'Sie weiß...' und 'Sie weiß nicht...', 'Sie erinnert sich...', wobei man natürlich nicht weiß, was an sprachlichem Können der Autorin tatsächlich naturgegeben ist und was sie aufgerüstet bzw. sich in ihren täglichen Cafébesuchen angelesen hat, aber das ist ja für das Lesevergnügen letztendlich unerheblich. Von mir gibt es 5 Sterne, ich würde das Buch auch ein zweites Mal lesen.