Rezension

Lug und Trug in der Oberschicht - Kein Muss, aber definitiv keine Zeitverschwendung

The Innocents 1: Bittersüße Küsse - Lili Peloquin

The Innocents 1: Bittersüße Küsse
von Lili Peloquin

Kleines, feines Buch voller Geheimnisse und kribbeliger Stimmung.

"The Innocents - Bittersüße Küsse" ist der Auftaktband zu einer Trilogie, der mit neuem Cover und unter neuem Namen innerhalb eines Jahres bereits zum zweiten Mal von Ravensburger veröffentlicht wurde (2015 hieß das Buch noch "Sweet Lies").

Einmal abgesehen von der vordergründigen Handlung, hängt über der Geschichte eine sommerlich-träge Stimmung mit der unterschwelligen Ahnung eines heraufziehenden Gewitters, die mich ziemlich schnell, ziemlich kribbelig gemacht hat! Gleich im Prolog werden wir Zeuge, wie sich die Schwestern Alice und Charlie streiten und Charlie heftig hervorstößt: „Du bist doch bloß eifersüchtig, weil ich hierher gehöre und du nicht.“ In einem Rückblick erfährt der Leser dann, wie es zu diesem Streit gekommen ist.

Alles beginnt – augenscheinlich – mit der Ankunft von Alice und Charlie im Nobelbadeort Serenity Point. Die Schwestern sollen den Sommer hier verbringen, weil ihre Mutter in die High Society eingeheiratet hat. Unter der glatten Fassade ihres neuen Zuhauses liegt jedoch etwas Dunkles, das spürt vor allem Alice. Richard, der neue Mann an der Seite ihrer Mutter ist ein undurchschaubarer Charakter, dessen erste Frau an Krebs gestorben ist und dessen Tochter Camilla kurz danach bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Seltsam nur, dass nirgendwo in Richards Landsitz Bilder der beiden hängen, der Geist von Camilla aber dennoch so präsent ist, als sei das Mädchen immer noch am Leben.
"The Innocents" beherbergt Motive der Gothic Novel und spielt mit der Vorstellung des Übersinnlichen, ohne diese Ansätze ernsthaft zu verfolgen. Lili Peloquins Augenmerk kreist um Alice und Charlie, die gegensätzlich auf die neue Umgebung reagieren. Während Alice sich weigert sich von der Elite assimilieren zu lassen, ist die extrovertierte Charlie heftig bemüht, Anschluss zu finden, trifft dabei aber nicht unbedingt die beste Wahl: Mit enfant terrible Jude und dessen hochnäsiger Cousine Cybill hat sie sich ebenso kapriziöse wie sündige neue Freunde ausgesucht.                           
Alice hingegen findet Interesse an dem stillen Tommy, der frühere Freund der toten Camilla, der einsam und irgendwie entrückt wirkt. So nimmt der Sommer in Serenity Point für die Schwestern einen unterschiedlichen Verlauf. Während Alice viel über die Vergangenheit ihrer neuen Familie grübelt und schließlich heimlich Nachforschungen anstellt, hat sich Charlie zum Ziel gesetzt, Jude einzufangen, der ihr mehr unter die Haut geht, als sie zugeben möchte.

Beide Handlungsstränge laufen anfangs noch wenig durchschaubar nebeneinander her, bewegen sich aber immer wieder aufeinander zu. Zunehmend deutlicher wird, dass die Gegenwart nicht ohne Kenntnis der Vergangenheit verstanden werden kann. So ist es vor allem Alice, die nach und nach mehr Licht ins Dunkel bringt und einigen gut gehüteten Geheimnissen auf die Spur kommt.

Das Buch entpuppte sich für mich als echter Pageturner. Dieses Maß an Spannung hatte ich nach dem Lesen des Klappentextes nicht erwartet. Der altmodische Charme, ein Hauch Herrenhausgrusel, das sture Schweigen aller Beteiligten und das Wissen um einen Haufen Lügen ergaben zusammen eine ziemlich sogentwickelnde Mischung.
Die Beschreibungen der Autorin sind stimmungsvoll, realistisch und erzeugen ständig Bilder im Kopf. Auch die Hauptfiguren Alice und Charlie sind gut gezeichnet, obwohl die Perspektiven teilweise etwas abrupt wechseln und ineinander laufen, was mich vermutlich auch deshalb störte, weil ich im Grunde lieber bei Alice verweilt wäre, die ich sehr mochte. Sie schaut von Beginn an genau hin und lässt sich nicht blenden. Ihre Hartnäckigkeit in Bezug auf die Geheimnisse der Vergangenheit hat mir gut gefallen und auch die Art und Weise, wie sie sich durchsetzt, ohne dabei gleich alles um sich herum in Trümmer zu legen. 
Zu Charlie hatte ich ein zwiespältiges Verhältnis. Obgleich sie der rebellische Part der Schwestern ist, spielt sie ihre Stärke häufig nur, während sie in Wahrheit alles daran setzt, akzeptiert zu werden und im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Fixiertheit auf den unangenehmen Jude konnte ich schon gar nicht nachvollziehen. Aber die Autorin lässt genügend Raum für eine Entwicklung der Figuren.

Die Charaktere Tommy, Jude, Cybill und Stiefvater Richard sind leider etwas vage, sollen es aber wohl auch sein. Ob Tommy so nett ist, wie es den Anschein macht, bleibt abzuwarten; ob Jude der Bad Boy ist, der er vorgibt zu sein … auch hier könnte es Überraschungen geben. 
Lili Peloquin bewahrt ihre Geheimnisse gut und gibt nur langsam Antworten. Das erklärt vielleicht auch, warum der romantische Anteil der Geschichte etwas unausgegoren wirkt – zwischen den Paaren türmt sich meterhoch die Vergangenheit auf, die wohl weiter entschlüsselt werden muss, bevor sich die Gegenwart aus dem seltsamen Gefühl des Stillstands befreien kann, das den Sommer in Serenity Point überlagert. 
Eine erste große Enthüllung gibt es bereits gegen Ende dieses ersten Bandes – es ist eine Wendung (Applaus, Applaus, gut gemacht!), die ich so nicht vorausgesehen habe, obwohl sie rückblickend völlig logisch erscheint.

"The Innocents" ist nicht unbedingt eine Serie, von der ich sagen würde: Lest sie, sonst habt Ihr umsonst gelebt! Aber Fans von Gossip Girl, Pretty Little Liars und atmosphärischen Mysterygeschichten könnten ihre Freude daran haben. 
Um herauszufinden, ob die Geschichte etwas für Euch ist, schaut einfach mal rein. Vielleicht stellt Ihr überrascht fest, dass Ihr immer mehr und mehr wissen wollt - genau wie ich. Ich bin nämlich sehr neugierig, wie es mit Alice und Charlie weitergeht. Lange muss ich auf Antworten übrigens nicht warten. Der zweite Teil ist bereits erhältlich!