Moderne Wahlverwandschaften
Bewertet mit 4.5 Sternen
Eschenbach lebt auf einer einsamen Insel als Vogelwart. Anna hat sich angekündigt; Anna, seine ehemalige Geliebte, die ihn vor sechs Jahren verlassen hat. Bis sie ankommt, entfalten sich die Bilder seiner Erinnerung: Sein beruflicher Erfolg, die Beziehung zu Selma, die erste zufällige Begegnung mit Anna, die Freundschaft zwischen ihm, Selma, Anna und deren Mann Ewald. Die Anziehung, die er schon bei der ersten Begegnung gespürt hat, steigert sich immer weiter und es entwickelt es sich eine heimliche Beziehung. Anna leidet so stark an der Situation, dass sie aus ihrem bisherigen Leben aussteigt, den Geliebten wie den Ehemann verlässt und mit den Kindern nach New York zieht. Auch Eschenbachs Leben gerät völlig aus den Fugen: Gleichzeitig mit Annas Flucht geht seine Firma bankrott. Er sieht kein Ziel und keinen Sinn mehr und lässt sich treiben. Sein Leben als Vogelwart im Naturschutzgebiet gleicht dem eines Eremiten, der nur von den Geistern seiner Vergangenheit besucht wird.
Die Ausgangssituation erinnert mich an Goethes Wahlverwandschaften: Ein glücklich verheiratetes Paar nimmt zwei Gäste auf, die eigentlich gleichfalls ein Paar werden könnten; doch dann verlieben sich alle "über Kreuz". Wie sich in den Naturwissenschaften bestimmte Elemente gegenseitig anziehen, ist auch hier von der ersten Begegnung an eine unwiderstehliche Anziehungskraft zwischen Eschenbach und Anna zu spüren. Die beiden verlassenen Partner, Selma und Ewald, trösten sich und finden in eine neue Ehe. So geht, anders als bei Goethe, zumindest für dieses Paar das Leben gemeinsam weiter.
Faszinierend an diesem Buch finde ich die moderne Umsetzung des zweihundert Jahre alten Klassikers. Die Gespräche zwischen den Protagonisten drehen sich bei Timm nicht um die Naturwissenschaften,sondern um Ordnung und Unordnung, um Kunst und Handwerk, um Liebe und Begehren. Kann man wie der Prophet Jonas gegen sein Schicksal aufbegehren? Oder kann man Zuneigung vorab berechnen und optimieren? Solche philosophischen Fragen entfalten sich, während im Hintergrund detaillierte Naturbeschreibungen der Wattvögel ein plastisches Bild des melancholischen Insellebens zeichnen.
Das Buch steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2013 und auf der Spiegel Bestsellerliste.