Rezension

Zu gewollt intellektuell

Vogelweide - Uwe Timm

Vogelweide
von Uwe Timm

Bewertet mit 3.5 Sternen

Eschenbach ist kurzfristig als Vogelwart auf der Vogelschutzinsel Scharhörn eingesprungen. Andere Männer in seiner Lebenssituation wandern auf dem Jakobsweg oder absolvieren kostspielige Coachings. Eschenbach hat keine Wahl; denn er braucht das Geld. Seine Software-Firma, die erfolgreich Programme zur Optimierung von Betriebsabläufen entwickelte, ist bankrott. Der Planer, der schwungvoll Arbeitsplätze vernichtete, hat seinen gesamten Besitz in der Konkursmasse verloren. Als Vogelwart absolviert er den Sommer über seine tägliche Routine, sammelt und katalogisert den am Strand angespülten Müll, trägt Vogelbeobachtungen ein und führt einen mönchischen Ein-Personen-Container-Haushalt. "Sie" hat sich angekündigt, Anna, mit der Eschenbach in Berlin eine kurze und heftige Beziehung hatte. Übergangslose Rückblenden klären erst nach einer geraumen Zeitspanne, wer Eschenbach ist und welche Beziehung zwischen ihm und Anna besteht. Schicht für Schicht legt Uwe Timm frei, wer aus dem Kreis zweier befreundeter Paare wessen Ex und wessen Ehepartner war.

Eschenbach hat aus Protest gegen seine gutbürgerlichen altlinken Eltern ein Theologie-Studium abgeschlossen, dann aber in Berlin mit einem Teilhaber eine IT-Firma gegründet. Nun hält der Anfang Fünfzigjährige sich an der Routine seiner Aufgabe fest und erkennt beim Schwimmen im Meer seine Sterblichkeit. Jederzeit könnte ihn von einer Minute zur anderen ein Herzinfarkt treffen und ertrinken lassen. Leute wie Eschenbach trafen sich in Galerien - "Knete trifft Ästhetik" - und warfen dort routiniert mit Markennamen, ihrem Burnout und intellektuellen Spitzfindigkeiten um sich. Mit der Silberschmiedin Selma trifft Eschenbach endlich eine Person, unter deren Beruf andere sich etwas vorstellen können. Aus Gründen, die mir verschlossen blieben, begehrt Eschenbach Anna, die Frau seines Freundes Ewald. Die beiden Männer verbindet die Liebe zum Schrauben und Pusseln an Boot oder Oldtimer, die beiden Frauen die Kunst. Uwe Timms feine, ironisch unterlegten Abstufungen in Eschenbachs Leben zwischen Begehren (nicht Liebe), Lust und Abneigung habe ich mit großen Vergnügen gelesen. Mit der Vogelinsel Scharhörn präsentiert Uwe Timm wie auch in vorhergehenden Romanen einen ihm als Hamburger vertrauten Schauplatz. Präparierte Tiere tauchen als biografischer Bezug zu Timms Familiengeschichte auf. Bissig dokumentiert der Autor in seiner vertrauten Rolle des Chronisten am Beispiel eines als Unternehmer erfolgreichen Theologen Ereignisse der jüngsten europäischen Vergangenheit.

"Vogelweide" habe ich in einem Zug gelesen, doch Timms Figuren blieben für mich in den ersten beiden Dritteln des Buches leider farblos. Das Lebensgefühl eines Fünfzigjährigen, der sein privates und berufliches Leben in den Sand gesetzt hat, konnte der Roman mir nicht vermitteln; Eschenbachs Begehren nach Anna erst zum Ende des Romans. Mit ein paar kauzigen Nebenfiguren zeigt sich abschließend dann doch Uwe Timms berühmtes Erzähltalent voller listiger Einschübe. "Vogelweide" hat mich besonders zum Ende erheitert, wirkte jedoch zu gewollt intellektuell, um es begeistert weiterzuempfehlen.