Rezension

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Nach einem historischen Fall

Das letzte Bild -

Das letzte Bild
von Anja Jonuleit

Bewertet mit 4.5 Sternen

1944 läuft ein kleines Mädchen weg, voller Wut bestraft worden zu sein, und wird dadurch in den Kriegswirren von Mutter und Schwester getrennt. Nach einer unglücklichen Jugend in einer Pflegefamilie zieht die junge Frau 25 Jahre später auf der Suche nach ihren Wurzeln rastlos durch mehrere europäische Länder. Erstaunlich, wie sie sich auf ihrem Weg immer wieder hilfsbereite Menschen zunutze macht. In der Gegenwart verschlägt der deutschen Journalistin Eva eine Zeitungsmeldung die Sprache, in der mithilfe eines Phantombilds Informationen zu einer Toten gesucht werden, deren Fall in Norwegen seit 50 Jahren ungeklärt ist. Eine Zahnschmelzanalyse hat inzwischen ergeben, dass die Unbekannte mit der Fellmütze als Kind bei Nürnberg gelebt haben muss und später in Frankreich.

Eva ist der Toten aus dem Isdal wie aus dem Gesicht geschnitten. Noch unheimlicher findet sie, dass ihre Mutter das Thema sofort abblockt. Als Autorin einer Biografie und Tochter eines Kriegskinds fühlt sich Eva in ihrem Element und will dem Familiengeheimnis auf den Grund gehen. Ein DNA-Abgleich in Norwegen und ein altes Foto verraten, dass die Tote Evas Tante ist und die Mutter der Mädchen während des Nationalsozialismus als Ärztin in verschiedenen Lebensborn-Heimen gearbeitet hat.

Ehe sie sich ein Bild davon machen kann, wessen Kreise Tante Margarete damals gestört haben könnte, muss sie in die Lebensbedingungen und die politische Situation im Norwegen der 70er eintauchen.

Parallel zu Evas Recherche ist auch der norwegische Historiker Laurin mit der Vergangenheit seiner Familie konfrontiert, dem das Schicksal der in Norwegen diskriminierten Lebensborn-Kinder und "Deutschenliebchen" ein besonderes Anliegen ist. Ohne seine Recherche hätte es vermutlich noch immer keine offizielle Entschuldigung bei den Betroffenen gegeben. Schließlich sind es wieder Fotos, die Eva und ihre Informanten auf die richtige Spur führen.

Ein sehr ausführlicher Anhang zur Entstehungsgeschichte des Romans listet Quellen und Ermittlungsergebnisse zum realen Fall der Frau von Isdal auf.

Fazit

Mein Einstieg in Anja Jonuleits Roman, dem ein realer Fall zugrundeliegt, war zunächst steinig. Gleich zu Beginn ließen mich mehrere Figuren bei ihrem ersten Auftritt über ihr sonderbares Verhalten grübeln, das mir keinen Raum ließ, mir selbst ein Bild von ihnen zu machen. Zum Glück fand die befürchtete triviale Schwarz-Weiß-Malerei nicht statt und der Roman entwickelte sich zu einer komplexen Spurensuche mit - vielen - glaubwürdigen Figuren aus drei Generationen. Besonders ans Herz gewachsen sind mir die pfiffige Moen, der einheimische Polizeikommissar – und natürlich hat mich die Rolle der Fotografie bei der Aufklärung des Falls begeistert. Das Schicksal der Schwestern und die Nähe einiger Figuren zu realen Personen sind mir sehr nahegegangen. Anja Jonuleit thematisiert mit ihrer Spurensuche bewusstes und unbewusstes Erinnern, das Schicksal von Kriegskindern, den Umgang mit Kriegsschuld, Gründe für Verdrängung, sowie die Rolle von Sensations-Journalismus.