Rezension

Nationale und familiäre Tragödien

Schattenkind - Anne Holt

Schattenkind
von Anne Holt

Pro:
Der Leser wird direkt mitten in das familiäre Trauma gestoßen, aber schnell etablieren sich auch die schrecklichen Todesfälle auf Utøya als allgegenwärtige Kulisse - denn zunächst hat kein Polizist Zeit, sich um den Tod des kleinen Sander zu kümmern. Er wird beinahe bedeutungslos im Vergleich, und nur ein junger, unerfahrener Ermittler wird schließlich abgestellt, um die Eltern zu befragen und sich das Umfeld des Jungen anzusehen. Unterstützt wird er dabei von Inger Johanna, die Lesern von Anne Holt bereits aus früheren Büchern bekannt ist.

Die Autorin baut schon in den ersten Seiten Spannung auf, die im Verlauf des Romans auch selten einmal nachlässt und dem Leser eine Verschnaufpause gönnt. Es ist dabei eine eher subtile, psychologische Spannung, die größtenteils ohne drastische, blutige Schilderungen von Gewalt und Tod auskommt. Und es geht hier nicht nur um die Klärung des Todesfalls, sondern um Themen wie Trauerbewältigung, persönliche Haftbarkeit und die Frage, ob man Menschen, die man schon viele Jahre kennt, wirklich bis ins Innerste kennt. Die Atmosphäre ist bedrückend, aber packend.

Die Charaktere waren für mich alle sehr glaubwürdig - auch oder gerade die, die einem (erst einmal) nicht sympathisch sind. So konnte ich zum Beispiel den jungen Polizisten erst nicht leiden, aber im Verlauf des Buches erfährt man immer mehr über ihn und er gewinnt eine berührende emotionale Tiefe, so dass er am Ende sogar mein Lieblingscharakter war. Ich hoffe darauf, ihn in zukünftigen Bücher von Anne Holt wiederzutreffen!

Die Familie von Sander lebt nach seinem Tod wie in einer Blase, als einzige abgeschottet vom kollektiven Albtraum Norwegens. Wer könnte ihnen das übelnehmen? Wie ein Freund der Familie, für den Sander wie ein kleiner Bruder war, an einer Stelle sagt: ihm ist bewusst, dass es auf Utøya 69 tote Kinder gab, aber nur Sander hat er gekannt und geliebt, und damit wiegt für ihn der Tod dieses einzelnen Kindes schwerer.

Inger Johanna steht in diesem Roman sehr alleine da. Ihr Mann, beteiligt an den Ermittlunge von Utøya, ist emotional zerissen und leidet dermaßen, dass sie ihn nicht weiter belasten will - und dann kommt für Inger Johanna ein weiteres, sehr persönliches Problem dazu.

Der Schreibstil ist wunderbar. Klar und oft eher nüchtern, aber trotzdem eindringlich... Mir gefiel sehr gut, wie konsequent die Autorin auf Effekthascherei und übertrieben dramatische Schilderungen verzichtet. Die Geschichte ist tragisch genug, dass leise Töne mehr als genügen, um sie zu erzählen.

Zitat:
"Es war ohnehin zu spät.
Das Wohnzimmer war ordentlich und sauber, als ob es in wenigen Stunden fröhliche Gäste empfangen würde.
Wenn da nur nicht das tote Kind gewesen wäre.

"Nicht", murmelte die Mutter fast unhörbar."

Das Cover springt direkt ins Auge und macht klar: hier erwartet den Leser ein moderner Thriller mit Hochspannung pur! Der Apfel und die Rasierklinge haben zwar herzlich wenig mit dem Inhalt zu tun, aber das Titelbild fand ich dennoch ansprechend.

Kontra:
Ich bin leider schon relativ früh darauf gekommen, was passiert ist - allerdings blieb es dennoch spannend, weil die Frage blieb, ob und wie der Fall geklärt werden würde, und welche Konsequenzen es für die Beteiligten haben würde.

Das Ende... Ohje, das Ende. Nachdem ich die letzten Seiten gelesen hatte, war ich so schockiert, dass ich das Buch am Liebsten an die Wand gepfeffert hätte. Ich habe mich bitter bei meinem Mann beschwert, und er wies mich darauf hin, dass es ein konsequenter Schluss dieses Buches ist und nahtlos in die Thematik passt. Nach drei Tagen des Nachdenkens muss ich ihm Recht geben, aber es bleibt ein Ende, das nicht leicht verdaulich ist.

Zusammenfassung:
Für mich ist "Schattenkind" ein erstklassiger nordischer Krimi, der das Kunststück schafft, eine nationale Tragödie zum Hintergrund zu machen, ohne ihm die Tragweite und Relevanz zu nehmen.