Rezension

Neuübersetzung des Klassikers

Freie Geister - Ursula K. Le Guin

Freie Geister
von Ursula K. Le Guin

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Zyklus

Freie Geister (1974, The Dispossessed) ist Teil des 8-teiligen Hainish-Zyklus, der im alternativen Ekumen-Universum spielt und von dem zuerst "Rocannons Welt" erschien. Von den Hainish dieser alternativen Welt stammen die Menschen aller Planeten ab. Besiedelt ist u. a. auch die Erde (Terra). „Freie Geister“ erschien als fünfter Band in diesem Zyklus, spielt zeitlich jedoch vor den anderen Bänden.

Die älteren Ausgaben
Planet der Habenichtse
Die Enteigneten: Eine ambivalente Utopie

Inhalt

Shevek ist Physiker auf dem Planeten Anarres (Der Name Anar-res spielt auf Anarchie an, die Herrschaftslosigkeit als soziale Ordnung). In einer Rahmenhandlung befindet Shevek sich als Passagier eines Raumschiffs im Anflug auf den Raumhafen von Anarres, der wie eine Quarantänestation durch eine Mauer vom restlichen Planeten abgetrennt ist. Je nachdem wo man sich befindet, ist man selbst hinter dieser Mauer eingesperrt oder blickt aus dem Universum auf diese Enklave. Wer mit der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland aufgewachsen ist, trifft schon im ersten Kapitel auf vertraute Strukturen des Kampfs unterschiedlicher politischer Systeme. Anarres ist die Rohstoffkolonie des Planeten Urras, auf den sich nach einer Revolution vor 200 Jahren eine kleine Gruppe von Aufständischen zurückgezogen hat, um einen alternativen Lebensentwurf zu leben. Anarres wirkt wie ein kleiner proletarischer Nachbar des wirtschaftlich erfolgreicheren Hauptplaneten.

In Rückblenden folgt man als Leser der Entwicklung Sheveks vom Kind, über den Liebhaber bis zum promovierten Forscher. Ursula LeGuin beschreibt Sheveks Sozialisation aus seinem beinahe kindlichen Staunen heraus über für ihn befremdliche Lebensgewohnheiten auf Urras, für dessen Bewohner Besitz und Status sehr wichtig sind. In der Shevek bekannten alternativen Lebensformform gibt es keine Kleinfamilien und kein Privateigentum mehr; Hierarchien sind ihm fremd. Paare leben nicht miteinander, Kinder treffen zwar ihre Eltern, schlafen nachts jedoch in eigenen Schlafhäusern. Wer sich dieser Lebensform schwer unterordnet, ist Kritik ausgesetzt, er solle nicht „egoisieren“, nicht „propertär“ denken, niemand solle seinen Partner oder sein Kind besitzen wollen. Es gibt eine hochentwickelte Tauschwirtschaft, aber kein Geld. Luxusartikel werden als überflüssig angesehen, diese Kultur benötigt dafür auch keine Ausdrücke. Shevek hat man gelehrt, dass alle Menschen und jede Arbeit gleichwertig sind. Aus dem gemeinschaftlich erarbeiteten Warenbestand nimmt sich jeder, was er meint zu benötigen. Doch die Vordenker dieses sozialistisch geprägten Anarchismus haben den Wunsch nach Gerechtigkeit und das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung übersehen. Die Zuteilung von Arbeitsplätzen könnte gerechter verlaufen - wenn es der Gemeinschaft wichtig wäre. Nüchtern betrachtet ist Urras ein Staat, in dem allein Opportunisten erfolgreich überdauern. Obwohl hochqualifiziert, erfährt Shevek leidvoll, dass er in der ihm fremden Staatsform völlig hilflos ist, als andere sich seiner Forschungsergebnisse zum Zeitverlauf bedienen und das politische System seine Wissenschaft für sich vereinnahmt. Sheveks Forschung ist Voraussetzung für Reisen mit Lichtgeschwindigkeit. Auch Wissen ist Besitz, der hier nicht automatisch der Gemeinschaft dient. Shevek erkennt, dass Intellektuelle in ihrem Elfenbeinturm die größten Egoisierer sein können, wie Volkes Stimme zu Recht kritisiert. Shevek gehört durch seine Bildung einer Elite an und stellt allein durch seine Existenz das Gedanken-Gebäude der alternativen Lebensweise infrage, in der er aufgewachsen ist.

Faszinierende Fragen entwickelten sich, als ich Sheveks Entwicklung verfolgte. Warum z. B. uns bekannte -ismen bisher an Bürokratisierung und Menschenfeindlichkeit scheiterten. In welcher Reihenfolge sich Sprache und Bewusstsein entwickeln, ob Ideologien menschliche Beziehungen zerstören, woher die Ethik des Nicht-Haben-Müssens stammt oder der philosophische Wettstreit um Haben oder Sein. Auch habe ich mich gefragt, ob Ursula LeGuins Leser schon 1974 in ihrer Beschreibung, „hier ist alles alt, hierarchisch organisiert und nur für Männer“ den feministischen Ansatz erkennen konnten.

Bei seinem Erscheinen war der Roman eine Utopie. Inzwischen ist er ein preisgekrönter Klassiker der Science Fiction, der zwei konkurrierende Gesellschaftsformen gegenüberstellt, in denen man unschwer Ost und West aus Zeiten des Kalten Krieges, Kapitalismus contra Sozialismus/Maoismus erkennen kann. Die Form des Entwicklungsromans mit wechselndem Schauplatz ermöglicht es, Sheveks Erkennen der Schattenseiten des heimatlichen Systems zu folgen. Die zufällige und „demokratische“ Verteilung anfallender Arbeiten ist nicht produktiv, sondern eine gigantische Verschwendung von Fähigkeiten. Shevek selbst nimmt als Abwechslung von seiner Forschungsarbeit gern mal eine Schaufel in die Hand. Um sich weiter unterordnen zu können, muss er verdrängen, dass ein Volk in der unwirtlichen Landschaft von Anarres sich Verschwendung von Wasser, Lebensmitteln oder Arbeitskraft nicht leisten kann. Weil Shevek mit seiner Forschung die selbstgesetzten Grenzen des Systems (und damit den geistigen Horizont der Herrschenden) überschreitet, wird er in beiden Systemen zum Außenseiter, zum erklärten Verräter, auf den die Bewohner mit klassischer Fremdenfeindlichkeit reagieren.

Fazit

„Freie Geister“ erfordert hohe Konzentration beim Lesen, weil die entscheidenden Wendungen in Sheveks Innerem stattfinden ihm selbst nicht unbedingt bewusst sind. Diese Konzentration lohnt sich unbedingt, auch wenn in diesem Band wenig über den Staatenbund an sich vermittelt wird. Ähnlich wie die Einzelbände des Zyklus, der nicht in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse erschien, sind die Kapitel wie auf einer Planeten-Umlaufbahn angeordnet. Die ungewöhnliche Form könnte man in Sheveks alternativer Vorstellung vom Zeitverlauf wiederfinden, in dem Menschen sich in einem konstanten Jetzt an einer feststehenden Zeit entlang bewegen. Allein stilistisch ist das Buch in seiner zeitlosen Sprache ein Klassiker. Phantasiewelten halten einem den Spiegel vor, schreibt die Übersetzerin Karen Nölle über die Neuausgabe der „Dispossessed“. Alternative Welten lassen einen die Begrenztheit der eigenen Sehgewohnheiten erkennen und ermöglichen darüber hinauszudenken. Ein Buch, von dem ich mir wünsche, dass auch meine Enkel es noch lesen werden.