Rezension

Science-Fiction-Klassiker: Immer noch aktuell

Freie Geister - Ursula K. Le Guin

Freie Geister
von Ursula K. Le Guin

Im Weltraum: Ein Zwillingsplanet. Urras ist fruchtbar, und seine Bewohner genießen Wohlstand. Alle seine Bewohner? Nein. Es gibt Arme, die wie Sklaven für die Reichen arbeiten müssen - ein Klassensystem. Vor 170 Jahren hat sich Odo dagegen aufgelehnt; ihre Anhänger sind die Anarchisten, die jede Form der Herrschaft von Menschen übereinander ablehnen und Freiheit als oberstes Prinzip ansehen. Ihre Anhänger sind aufgebrochen zum Zwillingsplaneten Anarres. Dort ist es unwirtlich, und die Menschen müssen um das Existenzminimum kämpfen - aber das tun sie gemeinsam. Jeder trägt zur Arbeit bei, jeder bekommt, was er braucht, niemand hat Eigentum. Das erinnert an Marx: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Eine ideale Welt also? Nicht ganz, denn so viele Jahre nach ihrer Entstehung sind auch hier Entwicklungen zu beobachten, die man kritisch sehen kann: In Zeiten einer Hungersnot hat sich eine starke Bürokratie aufgebaut, die persönliche Freiheit einschränkt; das Wohl der Gemeinschaft steht über dem Wohl des Einzelnen; es gibt einzelne Menschen, die das System ausnutzen; diese Welt hat eine radikale Abschottung von der "Mutterwelt" beschlossen.

Shevek auf Anarres ist ein genialer Physiker, dessen Gedankensystem über die Zeit weitreichende Folgen haben kann - wenn er denn in einen Austausch mit den Wissenschaftlern von Urras oder vielleicht auch von Terra und Hain treten kann. Gegen große Widerstände kann er einen Gastaufenthalt auf Urras antreten. Die Kapitel beschreiben abwechselnd seine Erlebnisse auf Urras und im Rückblick sein Leben auf Anarres. Beide Erzählstränge sind absolut faszinierend: Da ist die fremde Welt Anarres, deren Bewohner ganz andere Werte und Gebräuche haben, und da ist Urras, das in so vielem unserer Erde ähnelt. Wir erleben zwei Systeme, die doch sehr dem Kapitalismus und dem Kommunismus ähneln. Wozu Le Guin tendiert, wird deutlich, und das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Leser.

Vom Inhalt des Buches möchte ich nicht mehr verraten. Es ist Science Fiction, ja, aber es ist auch ein Entwicklungsroman, und es enthält Philosophie, Sozialkritik und natürlich auch Psychologie. Veröffentlicht wurde es 1974 unter dem Titel "The Dispossessed", was zunächst mit "Habenichtse" und "Enteignete" ins Deutsche übersetzt wurde, in dieser Übersetzung von Karin Nölle aber mit "Freie Geister". Das passt gut, denn die Bewohner von Anarres haben nicht nur keinen Besitz, sie sind auch von der Besessenheit nach Besitz befreit. Le Guin erhielt für dieses Buch gleich drei Preise, den Nebula, den Hugo und den Locus Award. Das hat dieses Buch verdient.

Zum Abschluss ein Buchzitat. Es spricht die Botschafterin von Terra - wohlgemerkt 1974:

"Meine Welt, die Erde, ist ein Trümmerfeld. Ein durch die Spezies Mensch zerstörter Planet. Wir haben uns vermehrt und bekriegt, wir haben gefressen, bis nichts mehr übrig war, und dann sind  wir gestorben. Wir haben weder Appetit noch Gewalt gebändigt; wir haben uns nicht angepasst. Wir haben uns selbst vernichtet. Aber vorher haben wir die Welt vernichtet. Auf meiner Erde gibt es keine Wälder mehr. Die Luft ist grau, der Himmel ist grau. Es ist immer heiß. Sie ist bewohnbar, sie ist immer noch bewohnbar, aber nicht so wie diese Welt. Dies ist eine lebendige Welt, eine Harmonie. Meine ist ein Misston. Ihr Odonier habt eine Wüste gewählt, wir Terraner haben eine Wüste geschaffen ... wir können dort überleben, so wie Sie auch überleben. Menschen sind zäh! Wir sind jetzt fast eine halbe Milliarde. Früher waren es neun Milliarden. Man sieht die alten Städte noch überall. Die Knochen und Ziegel zerfallen zu Staub, aber die kleinen Plastikreste zerfallen nie - auch sie können sich nicht anpassen. Wir haben als Spezies, als soziale Spezies versagt."