Rezension

Obsession...

Dunkle Havel - Tim Pieper

Dunkle Havel
von Tim Pieper

Bewertet mit 5 Sternen

Hauptkommissar Toni Sanftleben hatte sehr persönliche Gründe für seine Berufswahl. Seit 16 Jahren ist seine Frau spurlos verschwunden, alle Fährten verliefen ins Nichts, und der Beruf als Polizist ermöglicht es Toni zumindest, mögliche Spuren zu erkennen und zu verfolgen. Was ist damals geschehen vor all den Jahren auf dem Baumblütenfest in Werder?
Seit 16 Jahren dreht sich Tonis Leben nunmehr um diese Frage. Die Ungewissheit um das Schicksal seiner Frau, die er immer noch liebt, macht ihn schier verrückt. Die Spurensuche hat obsessive Züge angenommen, auch dem unmöglichsten Verdacht wird nachgegangen, alles wird in einem privaten Archiv gesammelt, um ja nichts in Vergessenheit geraten zu lassen. Und als Sanftleben zu einem Mordfall in der Potsdamer Innenstadt gerufen wird, traut er seinen Augen nicht, als er in der Tasche des Mordopfers das Foto einer weinenden Frau entdeckt - SEINER Frau Sofie.

Schließlich hob Toni die transparente Tüte an, in der das Foto steckte. Als er es umdrehte und der Frau ins Gesicht blickte, stockte ihm der Atem. Für einen Moment stand die Welt still, kein Laut drang zu ihm durch. Auch wenn die katzengrünen Augen verweint waren, auch wenn sich die Flügel ihrer feinen Nase blähten, auch wenn sie ihre Lippen schürzte, konnte es keinen Zweifel geben. Er hatte ihr schönes Antlitz sofort wiedererkannt. Das war nicht die Ehefrau des Mordopfers, das war seine eigene Ehefrau, das war Sofie.

Nach einigen historischen Romanen und Krimis legt uns Tim Pieper hier seinen ersten Krimi in der Gegenwart vor. Mit Hauptkommissar Toni Sanftleben präsentiert der Autor einen erfolgreichen Polizisten, dem der Erfolg jedoch nicht wichtig ist. Einzig die Suche nach seiner seit Jahren verschwundenen Frau Sofie ist seine Motivation - ruhelos, dem Alkohol verfallen, gesetzliche Vorgaben missachtend, rennt er jeder Spur nach. Er kümmert sich um seinen Sohn und seinen Job, doch agiert er im Grunde nur als 'Funktionszombie', vergisst dabei, auch zu leben. Rastlose Suche und Betäubung - anders ist die nagende Ungewissheit für ihn kaum zu ertragen.
Toni Sanftleben war mir durch seinen Alkoholismus und seine Obsession nicht unbedingt sympathisch, aber ich hoffte doch die ganze Zeit, dass er zumindest am Ende des Buches nach den 16 Jahren endlich ins Leben zurückkehren kann. Er wirkt wie eine verlorene Seele, der nicht zu helfen ist - außer sie findet Antworten.

Toni griff sich an die Wange und stellte fest, dass seine Fingerspitzen nass waren. Er hätte nicht gedacht, dass er noch weinen konnte. In den vergangenen sechzehn Jahren war er zu einem Funktionszombie geworden, aber jetzt, in diesem Moment, löste sich ein Klumpen in ihm.

Der Krimi selbst ist ein reines Verwirrspiel. Zig Verdächtige, zahllose Spuren und Motive - und anfangs kaum erkennbare Zusammenhänge. Gekonnt führt Tim Pieper den Leser ein ums andere Mal auf die falsche Spur, lässt ihn heftig spekulieren, laufend die Meinung ändern, um ihm am Schluss noch einmal eine lange Nase zu drehen. Die Auflösung dann: ein Knalleffekt - vollkommen unerwartet, und doch logisch.
Das Ende - die Wahrheit um das Schicksal Sofies - ist Geschmackssache. Für die einen passt es hervorragend zu der Geschichte, für mich persönlich war es nicht ganz passend. Das hat dem Lesevergnügen als solchem aber keinen Abbruch getan.

Immer schon habe ich Tim Piepers Bücher gerne gelesen. Aber es ist zu merken, dass sich sein Schreibstil weiterentwickelt hat. Flüssig zu lesen, sehr bildhaft, geeignet, um sich Charaktere, Landschaften, Stimmungen wirklich vor Augen zu führen. Manchmal glaubte ich, das Funkeln der Sonne auf dem Waser greifen zu können.

Insgesamt ein angenehm zu lesendes Buch, eine perfekte Verwirrtaktik in einem untypischen Krimi, mit bildhaften Darstellungen und einem Schuss Drama. Eine gelungene Mischung, die mich auf weitere Bücher aus der Feder Tim Piepers freuen lässt!

© Parden